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Fasching als ‚doing gender‘? – Die Hexe in der Fastnacht

Als kleines Mädchen drückte ich mich vor den Faschingsumzügen im südwestdeutschen Raum – aus Angst vor den bösen Hexen. Sie sind immer wild, raufen, wälzen sich auf dem Boden und treiben Schabernack, vor allem mit dem weiblichen Publikum.

Abb. 2 Hexenpyramide©Anne-J. Schneider

Abb. 1 Hexenpyramide©Anne-J. Schneider

Und überhaupt sehen sie einfach furchteinflößend aus: gebückter Gang, Zottelmähne, Runzeln und nicht zu vergessen die riesige, mit Warzen besetzte krumme Hexennase. Genau wie bei Hänsel und Gretel. Anders als im Märchen wollen diese Hexen ihre ‚Opfer‘ zum Glück nicht verspeisen und lassen sie nach kurzer Zeit wieder frei.

Die Hexe ist aber weitaus mehr als eine im kulturellen Gedächtnis verwurzelte und durch die Fasnacht ‚real‘ gewordene Märchenfigur: Sie ist komplexer Träger diverser Motive, Zeichen und Symbole. Die (Häs-)TrägerInnen ver-körpern wiederum dieses Bedeutungsgewebe, werden zu einem Hybrid in einer Art Drittem Raum.

 

Die Hexe – eine „Synthese vieler Motive“ 
Die Hexe in der Fasnacht, eine traditionsreiche Figur? Nicht wirklich. Die Vorstellung der Hexe per se gibt es schon sehr lange; ihre Gestalt und ihr Gemüt waren dabei stets im Wandel.[1]

Abb. 5 Märchenhexe aus Hänsel und Gretel. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1989

Abb. 2 Märchenhexe aus Hänsel und Gretel. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1989

In der Fastnacht tauchte die Hexe erst 1933 auf – nach dem Vorbild der Märchenhexe der Romantik, die Personifikation des Dämonisch-Bösen und Numinosen ist. Man verwandelte das Häs der „Alten Weiber“ (Vorgängerin der Hexe und lange feststehende Figur in der Fastnacht) in das einer wilden Hexe.[2] So wurde sie als feste Figur in der Narrenwelt etabliert, unter anderem um die Sehnsucht nach mehr „Tradition“ zu befriedigen.

Die Hexe und der Elektrakomplex?
Interessanterweise darf die Hexe ‚traditionell‘ nur von Männern verkörpert werden, obschon es heute durchaus auch gemischte Zünfte gibt. Das heißt aber, dass sich unter den Kostümen meist Männer verbergen. Nicht schlimm, denn für HästrägerInnen ist die Hexe indes ein „geschlechtsloses Wesen“. Dabei basiert die Hexe – allein der Artikel weist auf eine weibliche Figur hin – durchaus auf einer weiblichen Gestalt, ist aber mit phallischen Attributen und Symbolen bestückt: groteske, große Nase und Hexenbesen. Die Hexe mutiert also eher zu einer ‚Zwittergestalt‘. Das vorwiegend weibliche Äußere und ihr weiblicher Ursprung lassen in Verbindung mit männlichen Hästrägern eine gewisse Uneindeutigkeit entstehen, was das Unheimliche, das die Hexe umgibt, intensiviert.

Abb. 1 Hexen©Anne-J. Schneider

Abb. 3 Hexen©Anne-J. Schneider

Das Häs – Körperpraxis und Performanz
Das Besondere an der Fastnacht ist ja, dass man – mit Hilfe von (Ver-)Kleidung – in verschiedene Rollen und Identitäten schlüpft.[3] Das Hexenhäs (nach strengen Regeln von jeder Zunft eigens entworfen) ist nicht nur bloße Verkleidung, sondern auch Uniform, die die Rolle und (Geschlechts-)Identität der TrägerInnen camoufliert und verschleiert. Die Maske ist der wertvollste und auch wichtigste Teil der Kostümierung: Sie lässt die TrägerInnen vollständig hinter der Hexe verschwinden, ihre Körper werden zum Hexenkörper. Die Närrinnen und Narren erwecken die Hexe zum Leben, bewegen sich dementsprechend und werden gänzlich von ihrer Rolle absorbiert. Wenn die HästrägerInnen also ihr Häs überziehen, findet gleichzeitig eine Ent-Sexualisierung statt. Sie begeben sich im doppelten Sinne in ein Momentum der Liminalität: Sie schweben einerseits zwischen ihrem Selbst und der Hexe, andererseits zwischen dem eigenen – männlichen oder weiblichen? – Körper und dem zwitterhaften, übernatürlichen Körper der Hexe. Die Maske fungiert dabei als Umkehrung von Innen und Außen: Manche TrägerInnen fühlen sich mit ihrer Hexenrolle in der Tat eng verbunden: „Eigentlich, im ersten Leben, bin ich eine Hexe.“ Eine Zunft bietet eine enge Gemeinschaft, in der alle „Hexe“ und damit „alle gleich“ sind. Soziale Herkunft, Beruf oder Geschlechtsidentität sind aufgehoben. „Hexe“ ist eine Art neue ‚gesellschaftliche‘ Kategorie in einer wahren Parallelwelt mit ihren eigenen Regeln, Traditionen und Bräuchen.

Die Hexe ist aus der Fastnacht nicht mehr wegzudenken und dabei Schreckensfigur und pure Leidenschaft: Hexenmotiv (als Synthese vieler Motive und Diskurse), Häs (in der Kleidung materialisiertes Hexenbild) und HästrägerInnen (Körper als Hybride) fügen sich zu dem komplexen Bedeutungsgewebe „Hexe“ zusammen und lassen einen neuen, Dritten Raum entstehen.

 

[1] Zitat: Kraus 1989, S. 62. Diese Figuren sind in vielen Kulturen Gegenstand von sich wandelnden Erzählungen und haben einen Stellenwert im kollektiven Gedächtnis. Davon zeugt auch ihre hohe Präsenz in vielen Märchen und Legenden.

[2] Dieses Hexenbild, das wir heute kennen, entwickelte sich erst im Laufe der Zeit: Zum Beispiel ist in der handschriftlichen Fassung von Hänsel und Gretel nur von einer „alten Frau“ die Rede; einige Jahre später wurde daraus „eine böse Hexe“. (Kraus, S. 62f.)
[3] S. hierzu auch Blogeintrag „Fasching als ‚doing gender‘? – Kinderfasching“

Literatur:
Bronner, Kerstin: Grenzenlos normal? Aushandlungen von Gender aus handlungspraktischer und biografischer Perspektive. Bielefeld 2011.
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main 1991, S. 190-218.
Korff, Gottfried: Wilde Masken. In: Ders. (Hg.): Wilde Masken. Ein anderer Blick auf die Fasnacht. Begleitband zu einer Ausstellung im Haspelturm des Tübingen Schlosses 26. Januar bis 5. März 1989. Tübingen 1989, S. 11-25.
Kraus, Jörg: Der Weg der Hexe in die Fasnacht. In: Gottfried Korff (Hg.): Wilde Masken. Ein anderer Blick auf die Fasnacht. Begleitband zu einer Ausstellung im Haspelturm des Tübingen Schlosses 26. Januar bis 5. März 1989. Tübingen 1989, S. 57-76.
Lehnert, Getrud: Wenn Frauen Männerkleider tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte. München 1997.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt (Hg.): Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. 12. Auflage, Darmstadt 1989.

Fasching als ‚doing gender‘? – Kinderfasching

Cowboy oder Prinzessin? Drache oder Marienkäfer? Fasching, Fastnacht, Karneval[1] – aus dem Alltag ausbrechen, unserer Fantasie freien Lauf lassen? Das Verkleiden wird zur wichtigsten Körperpraxis und die (Ver-)Kleidung, ob gekauft oder selbstgemacht, zum wichtigsten Aktanten. Mit jedem Kostüm streifen wir uns eine bestimmte Identität und damit verknüpfte Bilder und Erwartungen über. „Als was gehst du dieses Jahr?“ Für Kinder (und auch für Erwachsene) ist die Frage nach der Verkleidung dann von geradezu existenzieller Bedeutung.

Kostüme als Bedeutungsgewebe
Bei der Wahl unserer Verkleidung(en) kommt es auf den eigenen Geschmack, Vorstellungen und Träume an, die aber auch mit unserem Habitus – unsere Vorprägungen und Lebensweise – zusammenhängen. (Ver-)Kleidung setzt unseren Körper auf eine bestimmte Art und Weise in Szene; gleichzeitig machen wir uns das Kleidungsstück zu Eigen, nehmen eine weitere Identität an – beispielsweise Prinzessin, Pirat oder Rotkäppchen. Diese wird als solche erkannt, weil (Ver-)Kleidung mit Zeichen, Symbolen und sogar Emotionen aufgeladen, codiert und so im kulturellen Gedächtnis abgespeichert ist. Im Allgemeinen ist Kleidung mehr als eine textile Hülle: Mit ihr sind das soziale Umfeld, gesellschaftliche Strukturen, Mode- und Körperdiskurse verwoben. Durch sie werden wir nicht nur bestimmten sozialen Gruppen zugeordnet, es wird auch eine bestimmte (Geschlechts-) Identität erzeugt.

Von glitzernden Prinzessinnen…
Auf einer Faschingsveranstaltung für Kinder in Tübingen und in einem Laden, der eine große Auswahl an Kostümen bot, fiel mir auf, dass wohl vor allem Märchengestalten, (Super-)Helden aus Film und Comic sowie Tiere zu den beliebtesten Verkleidungen zählen mussten.

Abb. 1 Marienkaefer, Fee, Rotkaeppchen©Anne-J. Schneider

Abb. 1 Marienkaefer, Fee, Rotkaeppchen©Anne-J. Schneider

Für Jungen und Mädchen gibt es (nach wie vor) bestimmte Kostüm-Klassiker: Mädchen gehen beispielsweise gerne als Prinzessin, Fee, Squaw, Katze oder Marienkäfer.

Abb. 2 Cowboy, Polizist, Drache©Anne-J. Schneider

Abb. 2 Cowboy, Polizist, Drache©Anne-J. Schneider

 

 

 

 

Viele Jungs verkleiden sich als Cowboy, Polizist, Indianer, Pirat oder Drache. (s. Abb. 2) Klar, dass auch aktuell beliebte Filme die Kostümwelt beeinflussen: Neben Star Wars-Charakteren sind auch die „Minions“ häufig vertreten – letztere sind an sich geschlechtslos – Mädchen und Jungen gehen als diese knuffigen, gelben Wesen.

Dabei sticht sofort ins Auge: Anhand klarer, gewohnter Zeichen können die Kostüme eindeutig dem jeweiligen Geschlecht zugeordnet werden. Vor allem die Mädchenkostüme, sogar die Tierkostüme, bestehen fast ausnahmslos aus einem Rock oder Kleid – ein wahres Meer aus Pink, Glitzer und Tüll (oder Blau im Falle von Elsa aus „Frozen“). Mehr noch: Sie imitieren durch Korsage, Taillierung und Rock einen weiblichen, erwachsenen Körper.

… und bärtigen Cowboys
Die Kostüme der Jungen sind ‚männlich‘ gestaltet (Hose und Hemd oder Shirt). Kleinen Cowboys oder Piraten wird mitunter ein Bart aufgemalt. Und Pink? Keine Spur!

Abb. 3 Indianer, Squaw©Anne-J. Schneider

Abb. 3 Indianer, Squaw©Anne-J. Schneider

Manche Kostümierungen gibt es aber als weibliche und männliche Version: Indianerinnen (Squaws) und Piratinnen tragen Kleider oder Röcke anstelle von Hosen oder Overalls. (s. Abb. 3) Und damit man sich ja nicht ‚ver-kauft‘: Auf den Etiketten der Kostüme ist jeweils ein Mädchen oder Junge in diesem Kostüm abgebildet. Ist das freie Kostümwahl?

Abb. 4 SchlafwandlerIn©Anne-J. Schneider

Abb. 4 SchlafwandlerIn©Anne-J. Schneider

 

Im Laden gab es sogar ein als neutral gelabeltes Kostüm: Jungen und Mädchen dürfen SchlafwandlerIn sein. (s. Abb. 4). Die Kostüme machen aus Kindern Erwachsene, verstärken oder antizipieren sogar eine gewisse Rollenerwartung. Vor allem bei den Mädchenkostümen findet eine „gezielte Sexualisierung“ der Kleidung statt. (Mentges, S. 21) Auch Accessoires sind ‚eindeutig‘ gegendert: Welcher Cowboy würde zu einer rosafarbenen Knarre greifen?

Prinzessin in der Hose?
Fasching ist insofern als ‚doing gender‘ lesbar, als sich in den gängigsten (Kinder-)Kostümen der binäre Geschlechterdiskurs unserer Gesellschaft manifestiert, materialisiert und performativ bestätigt wird. Märchenprinzessinnen oder Feen tragen keine Hosen, weil wir es so gelernt haben (Ausnahme: Prinzessin aus Tausendundeine Nacht in Pluderhose); weil die Bilder solcher Gestalten aus einer Zeit stammen, in der Frauen keine Hosen trugen? Vielleicht sollte Klein-Lisa nächstes Jahr als Prinzessin mit Hose gehen. Ich wäre auf die Reaktionen gespannt.

[1] Die Bezeichnung ist abhängig von der Region. Für diesen Beitrag wähle ich den Begriff „Fasching“, da ich mich zwar im Raum der schwäbisch-alemannischen Fastnacht bewege, mich aber nicht auf die traditionelle Fastnacht/Fasnet beziehe. (s. Blogeintrag „Fasching als ‚doing gender‘? – Die Hexe in der Fasnacht“ für die südwestdeutsche Fasnacht als Bezugsrahmen.)

 

Literatur:
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main 1982.
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main 1991, S. 190-218.
Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt/Main 2007, S. 76-127.
Lehnert, Getrud: Wenn Frauen Männerkleider tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte. München 1997.
Lunin, Vincent: Kleid und Verkleidung. Untersuchungen zum Verkleidungsmotiv unter besonderer Berücksichtigung der altfranzösischen Literatur. Bern 1954.
Mentges, Gabriele: Uniform – Kostüm – Maskerade. Einführende Überlegungen. In: Gabriele Mentges/Dagmar Neuland-Kitzerow/Birgit Richard (Hg.): Uniformierungen in Bewegung. Vestimentäre Praktiken zwischen Vereinheitlichung, Kostümierung und Maskerade. Münster u.a. 2007, S. 13-28.

Die Fahne Budapests – Wenn Farben zum Politikum werden

Wird von den Farben eines Landes gesprochen, weiß jeder, dass damit die Fahne eines Staates gemeint ist. Diese haben besondere Bedeutung und sind symbolisch, wie emotional besonders aufgeladen. Auch Städte verwenden Fahnen als Hoheitszeichen. Besitzen diese auch die identitätsstiftende Kraft, wie Landesfahnen? Kann ihre Bedeutung sich verändern, wenn die vorhandene Fahne problematisch wird? Wie entsteht ein solcher Diskurs? Wer sind die maßgeblichen Akteure? Auf welchen Ebenen wird das Thema behandelt? Und wo findet die Diskussion überhaupt statt? Welche Rolle spielen die Farben dabei? Auf diese Fragen soll im Folgenden Antwort gesucht werden. Als Exempel hierfür dient der Austausch der Stadtflagge der ungarischen Hauptstadt Budapest im August 2011.

Die neue Fahne Budapests auf der Margaretenbrücke.

Die neue Fahne Budapests auf der Margaretenbrücke.

Ab dem Sommer 2008 waren in der ungarischen Presse vereinzelt Zeitungsartikel zu finden, die die Ähnlichkeit der Budapester Stadtflagge mit der Rumänischen Nationalflagge bemängelten.[1] Die Beiträge stammten meist aus ungarisch nationalkonservativen Kreisen, der in Siebenbürgen siedelnden Minderheitengruppe der Szekler. Diese befinden sich in Auseinandersetzungen um ihre Autonomierechte als ethnische Minderheit mit den rumänischen Behörden. Die einschlägigen ungarischen Zeitungen schrieben erst im Frühjahr 2011 über die Pläne des Budapester Bürgermeisters, István Tarlós, die er schon vor seiner Wahl zum Oberbürgermeister geäußert haben soll, an der Flagge der Hauptstadt etwas verändern zu wollen. Von Februar bis März 2011 tauchten immer Mehr Artikel auf, die sich mit der Fahne Budapests beschäftigten. Im Juni vervierfachte sich die Zahl der Beiträge, die über den damals schon bevorstehenden Fahnentausch schrieben. Zwischen dem 16. und 22. Juni erschienen ein Dutzend Artikel und unzählige Einträge in Internetforen, die sich konkret mit dem vorgestellten Entwurf der neuen Fahne und dem Für und Wider des Wechsels befassten.[2] Darauf hin initiierte das tagespolitische Nachrichtenportal Index.hu eine eigene Aktion, bei der die Leser ihre eigenen Fahnenentwürfe auf die Homepage des Nachrichtenportals einstellen durften. Bis Ende Juni erreichten an die 25 mehr oder weniger ernste Entwürfe die Redaktion.[3] Anfang Juli berichteten die Medien über den Beschluss des Stadtrates über die neue Flagge, die ab dem 15. August gelten sollte. Am 22. Juli reagierte der Stadtrat auf Bedenken des Innenministers und der „Symbolverantwortlichen der Regierung“, die Gestaltung der Fahne betreffend.[4] Diese Nachricht erreichte die Leser allerdings erst Ende August, als die darauf hin überarbeitete Stadtfahne schon galt.

Die ursprüngliche Fahne Budapests bestand aus den Farben der drei Ortschaften, die im Jahre 1873 zu einer Stadt vereinigt worden waren, Pest, Buda und Óbuda. Die Farben Rot, Gelb, Blau waren vertikal angeordnet und in der Mitte der Fläche war das Stadtwappen untergebracht.[5]

Die erste Fassung der neuen Stadtflagge Budapests, wie sie vom 15. bis 31. August 2011 in Geltung war, bestand aus dem Stadtwappen auf weißem Grund. Die Flagge war mit roten und grünen, mit ihren Spitzen zur Mitte gerichteten Dreiecken gesäumt.[6]

Es lässt sich nicht mit völliger Sicherheit sagen, welche Personen oder Gruppen den Stein ins Rollen gebracht haben. Waren es nationalistische Kreise, die in der alten Flagge die ‚falsche‘ Symbolik sahen, war es die Einzelperson István Tarlós, dem die Farben der Fahne ‚noch nie gefallen‘ haben. Erstaunlich ist, dass in den konsultierten Medien keinerlei Lobbys und feindliche Mächte als Profiteure des Fahnenwechsels vermutet wurden. Erstaunlich ist auch, dass sich keine Fachleute, wie Heraldiker, Vexillologen, Historiker oder Politikwissenschaftler zu Wort meldeten, geschweige denn, dass die Bevölkerung befragt worden wäre. Erst als das Kind in den Brunnen gefallen war, meldeten sich der Innenminister und die offiziellen „Symbolverantwortlichen“ des Landes zu Wort. Die Medien berichteten über vollendete Tatsachen und in den Blogs diskutierten die üblichen Interessierten. Die Stadtregierung ignorierte ihre Kritiken, denn die gewählte Stadtregierung darf, laut Satzung, die Insignien der Stadt verändern.

Neben der etwas subjektiv daherkommenden Begründung des Budapester Bürgermeisters für den Farbwechsel der Budapester Fahne, die Farben hätten ihm noch nie gefallen, spielte die Verwechselbarkeit der Farben der rumänischen Nationalflagge mit der Budapester Stadtfahne die größte Rolle. Erstere besteht aus drei gleich großen vertikal angeordneten Farbfeldern, blau, gelb, rot.[7] Lässt man die genaue Farbbestimmung außer Acht; berücksichtigt man die Regel der Flaggenkunde nicht, die besagt, dass die vertikale und horizontale Anordnung der Farbfelder für die Unterscheidung von Fahnen eminent sind; und ignoriert, dass Fahnen manchmal herunterhängen, so kann man zu dem Schluss kommen, dass Budapest an Feiertagen mit der rumänischen Nationalflagge dekoriert sei.[8] Um dieses Dilemma zu lösen, entwarfen der Oberbürgermeister und zwei weitere hohe Beamte der Stadtverwaltung eigenhändig eine neue Fahne für Budapest. Die Hauptstadt, so ihre Argumentation, stünde symbolisch für ganz Ungarn und sollte deshalb auch in ihren Farben das gesamte Land repräsentieren. Wohl um der Gefahr, die neue Fahne mit der Fahne eines anderen Landes zu verwechseln – was bei der ebenso oberflächlichen Betrachtung der ungarischen Nationalflagge mit den Fahnen Italiens, Mexikos, Nordrhein-Westfalens, Tadschikistans und Neuchâtels passieren kann – vorzubeugen, wählten die Planer der neuen Fahne eine besondere Vorlage. Sie wählten die mit Zacken in den Nationalfarben umrandete Flagge, die allerdings seit ihrer Einführung im 19. Jahrhundert für das Militär reserviert war.[9]

Die Entwerfer übersahen dabei auch, dass der 10. Bezirk der Hauptstadt bereits eine Fahne auf diese Grundlage basierend führt. Sie beachteten ebenfalls nicht, dass die Fahne der MIEP, der rechtsradikalen Ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei, dem Entwurf sehr ähnlich ist. Als diese Mängel von der landespolitischen Ebene angemahnt wurden, waren die ersten Fahnen schon in der Produktion. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Budapests hatte die Stadt am Nationalfeiertag, am 20. August, keine passenden Fahnen für die Beflaggung. Seit dem 31. August 2011 ist die nachgebesserte Stadtflagge gültig. Sie besteht aus einem Saum aus ‚modern‘ gegeneinander gewendeten Dreiecken in den Nationalfarben: rot für das Land, grün für die Landwirtschaft. Das Weiß der Grundfläche soll für die Baumwollindustrie stehen.[10]

Die ursprünglichen Urheber der Kritik an der 150 Jahre alten Stadtfahne ließen sich an dieser Stelle nicht ermitteln. Als das zentrale Moment der Kritik hat sich die Ähnlichkeit der rumänischen Nationalfarben mit den Farben Budapests herausgestellt. Den Kritikern ging es nicht um die Farben Weiß, Gelb, Rot, Blau oder Grün im Einzelnen, sondern um eine Farbkombination aus diesen Farben, die mit besonderer Bedeutung aufgeladen ist, die salopp als die Farbe eines Landes oder einer Stadt bezeichnet wird.

Der demokratisch legitimierte Oberbürgermeister erprobte seine Macht, indem er die Farben der Stadt, wenn auch legal, aber dennoch eigenmächtig veränderte. Bei den Diskursen um die alte Fahne wurde der Stadtflagge künstlich eine größere Bedeutung beigemessen als sie tatsächlich innehatte. Indem ihre Farben mit der einer Nationalflagge verglichen wurden, erhöhte sich ihre Bedeutsamkeit. Hierzu waren, so lässt es sich vermuten, Vertreter der, mit dem rumänischen Staat im Clinch liegenden, ungarischen Minderheit nützlich. Sie konnten der rumänischen Flagge eine negative Bedeutung zuschreiben und damit die Verwechslungsgefahr erst zum Problem erheben. Die heftige aber nur kurze und wirkungslose Aufwallung in den Medien zeigt das Desinteresse der Budapester Bürger am Thema. Ihre ‚Blasiertheit‘ ließ dem neuen Bürgermeister einerseits den Freiraum für den symbolträchtigen Farbwechsel, andererseits stellt sich die Frage, ob er von diesem Farbwechsel profitieren wird, wenn die Frage der Farbe der Fahne wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sein wird.

 


[1] http://www.erdely.ma/publicisztika.php?id=46147

[2] http://www.pesterlloyd.net/2011_25/25budapestflagge/25budapestflagge.html

[3] http://indafoto.hu/tag/z%C3%A1szl%C3%B3p%C3%A1ly%C3%A1zat

[4]http://index.hu/belfold/2011/08/30/a_kormany_jelkepfelelosei_reklamaltak_a_tarlosnal_a_zaszlo_miatt/

[5] http://hu.wikipedia.org/wiki/Budapest_z%C3%A1szlaja

[6] http://csepel.info/?p=14648

[7] http://www.fahnenflaggen.com/flagge-rumanien.html

[8] http://static.orszagalbum.hu/kozepes/1238708054.jpg

[9]http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Honv%C3%A9d_z%C3%A1szl%C3%B3_1848%E2%80%931849_A.JPG

[10] http://corrad.hu/uploads//webshop/budapest_zaszlo_fekvo.jpg