Das Kleid, das nicht kleidet

Mit einem tiefen Unbehagen steht man an der Vitrine, in der das „Hexenhemd“ liegt. Die Vitrine hat etwas von einem gläsernen Sarg. Das Kleid liegt darin, der Körper fehlt, man erahnt dennoch das Leid. Anna Kramer hat es während der zehn Verhöre unter Folter in diesem Raum getragen. Und am 8. Juni 1689 bei ihrer Hinrichtung mit dem Schwert. Danach wurde ihr toter Körper verbrannt. Und das Kleid verwahrt. Heute liegt es in dieser Vitrine, im obersten Geschoss des Rathauses in Veringenstadt, am Originalort des Geschehens neben dem historischen Ratssaal.IMG_1050

Über das Kleid wurde einiges geschrieben. Das Kleid sei, so wird es überliefert, in sieben Tagen von sieben dreizehnjährigen Mädchen gesponnen, gewoben und genäht worden. „In die Säume wurden geweihte `magische Zettel´ eingenäht, die gemäß dem Aberglaube den `Einfluss des Teufels auf die Person´, die dieses Hemd trägt, verhindern sollten. Das Hemd ist in der Halspartie in feine Falten gelegt und hat halblange Ärmel. Die vielen kleinen Löcher kommen daher, dass Drudenfüße und andere Zeichen eingenäht waren, die man später als unheilabwehrende Amulette wieder herausgeschnitten hat.“[i]

„Vor dem peinlichen Verhör (Folter; A.d.V.) mussten Schutzmaßnahmen gegen die Macht des Teufels ergriffen werden. Um magische Kräfte abzuwehren wurden den Angeklagten oft die Haare geschoren, und sie mussten vor dem Verhör ein neues härenes Hemd anlegen, damit auch in ihrer Kleidung keine Zaubermittel verborgen werden konnten. In katholischen Gegenden war das Hexenhemd zudem geweiht und die Delinquenten wurden zusätzlich mit Weihwasser besprengt und beweihräuchert.“[ii] In anderen Texten heißt es, das Kleid habe die Frauen während des Verhörs entpersonalisiert.[iii]

Das Hexenhemd ist ein Kleidungsstück, das mit den üblichen Methoden von Untersuchungen über Kleidung und Sprechen über Materielle Kultur kaum zu fassen ist. Es schützt den Körper nicht gegen die Witterung. Es ist kein religiöses Kleidungsstück, obwohl es mit Weihwasser in Beziehung gebracht wird. Es ist kein Zeichen von Distinktion, obwohl es einzigartig ist. Mit Kostümgeschichte kann es nicht erklärt werden. Es folgt nicht dem Diktat der Ästhetik oder der Mode, obwohl es am Hals feinstsäuberlich gekräuselt und präzise verarbeitet ist. Es ist nicht Teil der Identität der Trägerin, es wird ihr oktroyiert. Das Kleid kleidet seine Trägerin nicht. Das Kleid ist ein Zeichen. „Dinge sind Zeichen, wenn sie bei ihrer Verwendung und Wahrnehmung Sinn erlangen und eine spezifische, non-verbale Kommunikation ermöglichen.“[iv]

Eher scheint es, dass es die Folterknechte gegen die Macht, die dem Körper der Hexe zugeschrieben wird, schützen soll. Es sollte gewährleisten, dass sich die Angeklagte durch Zaubermittel in ihrer Kleidung nicht schützen kann.

Dieses Kleid und seine Bedeutung widerstreben der Fassbarkeit. Das Hemd ist ohne den Körper, der es getragen hat, den damaligen Normen, den Folterknechten, den Magistraten, der Dorfgemeinschaft, ihrem Aberglaube und Boshaftigkeit nicht zu denken. Mentges zitiert Hahn: „Materielle Dinge sind stets aus dem Kontext des Handels zu verstehen. (…) Die Verbindung von Materiellem und Immateriellem ist dabei als etwas Gleichzeitiges aufzufassen.“[v]

Wäre das Hemd dann eher als konkrete Praktik und Kommunikationsprozess zu verstehen? Als eine Praktik der Disziplinierung und Machtausübung? Auch der Böswilligkeit verbunden mit Furcht? Das Hemd wird nach Foucaults Theorie zum Ausdruck der Disziplinarmacht: „Materielle Dinge wie Gebäude und Geräte bilden mit immateriellen Diskursen, Institutionen, Aussagen, Maßnahmen zusammen `Netze‘ oder `Dispositive´, in denen sich die Disziplinarmacht manifestiert.“[vi] Latour geht weiter: Nicht nur das Symbolische, was dem Hemd zugeschrieben wird, sondern seine schiere materielle Existenz lässt die Macht wirken. „Als solche wirken sie (die Dinge; A.d.V.) nach Latour auf eine gegebene Situation ein, entfalten Macht gegenüber denjenigen, die mit ihnen umgehen oder ihnen ausgesetzt sind, allein durch ihre spezifische Form, Materialität und Anwesenheit.“[vii] Das Hemd handle nicht wie Menschen, übt aber „in der situativen Verknüpfung mit Menschen eine eigenständige Macht auf diese aus.[viii]

Das Hemd ist kein Kleidungsstück: Es kleidet seine Trägerin nicht, sondern übt eine ungeheure Macht aus, die bis zur Entpersonalisierung der Trägerin geht. Daher entsteht das tiefe Unbehagen bei der Betrachtung des „Hexenhemdes“ in der Vitrine.  (mvr)

 

[i] https://de.wikipedia.org/wiki/Hexenhemd_von_Veringenstadt

[ii] Landesstelle für Museumsbetreuung: Hexenhemd oder Schandkleid – Objekt des Monats 2008. http://www.landesstelle.de/hexenhemd-oder-schandkleid-2/

[iii]Hexenhemd Veringenstadt. https://www.veringenstadt.de/verzeichnis/objekt.php?mandat=128533

[iv] Tobias Kienlin/Anne Widura: Dinge als Zeichen. In: Samida, Stefanie/Eggert, Manfred/ Hahn, Hans Peter: Handbuch Materielle Kultur. Stuttgart, 2014.

[v] Gabriele Mentges: Kleidung als Technik und Strategie am Körper. In: Holenstein, André/Meyer Schweizer, Ruth (Hg.): Zweite Haut. Bern/Stuttgart/Wien, 2010.

[vi] Barbara Stollwerk-Rillinger: Macht und Dinge. In: Samida, Stefanie/Eggert, Manfred/ Hahn, Hans Peter: Handbuch Materielle Kultur. Stuttgart, 2014. S. 87.

[vii] Ebd.: S. 88.

[viii] Ebd.