MILCH ZUM ANZIEHEN

„Seidenweich und seidenleicht“, „warm wie Wolle“, „Leinen kühlt“, „Pelz ist schwer, weich und wärmend“, „Leder glatt und stabil“, „Baumwolle leicht und praktisch“ etc.

All’ diese Materialien charakterisieren eine Eigenschaft, manchmal auch mehrere gleichzeitig, deren Haptik für die meisten Menschen nachzuempfinden ist, ohne das Material dafür physisch berühren zu müssen.
Es sind gängige Materialien, die uns nicht nur in der Bekleidungsindustrie sondern in vielen anderen Bereichen des Lebens unterkommen, sei es der Lederbürostuhl oder die Baumwollbettwäsche. Die haptische Erfahrung können wir in unserer Vorstellung abrufen, oft tun wir das unbewusst und greifen beim Kauf neuer Kleidung automatisch und beeinflusst vom aktuellen Klima zu einem Material, welches guten Tragekomfort verspricht. Denn es spielt eine große Rolle woraus unsere „zweite Haut“ besteht.

Fischleder, Papier aus Tomaten oder gar Fasern aus Milch?
Es scheint eine beinahe absurde Idee zu sein, aus Lebensmitteln, wie beispielsweise Milch, Fasern zu spinnen. Offensichtlich ist sie nicht ganz neu, denn auf dem Markt existieren bereits Textilien, die aus dem Grundstoff Milch gefertigt sind.

Schon in den 1930er-Jahren wurde Milchprotein (Kasein) zu Fasern verarbeitet, damals allerdings noch mit dem hautunverträglichen Zusatz Formaldehyd, der den Stoff stabilisierte.
Aufgrund der für den Menschen giftigen Wirkung von Formaldehyd ist es heute als Zusatzstoff in der Textilproduktion verboten.

Anke Domaske arbeitet seit Jahren mit ihrem kleinen Unternehmen an der Weiterentwicklung der Milchfaser. In ihrer Fabrik in Bremen produziert sie eine Faser, die leicht fließend wie Seide ist, und gleichzeitig wärme- und feuchtigkeitsregulierende Eigenschaften wie Baumwolle aufweist.
Für die Produktion wird ausschließlich Milch, die nicht mehr für die Lebensmittelversorgung geeignet ist, verwendet.
(Abgelaufene Milch, oder durch Keime verunreinigte Milch, wenn z.B. die Kühlkette unterbrochen war…)

Die Grundmasse für die Faserproduktion besteht aus Eiweißpulver und Wasser, die mit noch einigen weiteren Zutaten verknetet, auf 80°C erhitzt, und durch eine Siebplatte gedrückt wird.
Dabei entstehen farblose Fasern, die dünner als ein Haar sind, zudem strapazierfähig, antibakteriell, antiallergen und ökologisch nachhaltig produziert.

Die Trageigenschaft des Materials erinnert an Seide – eine glatte dünne Oberfläche, die sich weich an die Haut schmiegt.
Die Faser wirkt durch die antibakterielle Wirkung mildernd auf Hautirritationen und unterstützt Menschen mit Neurodermitis dabei, durch das Tragen von Bekleidung aus dieser Art gefertigter Textilien, den gesundheitlichen Zustand vorteilhaft zu beeinflussen.

Die Frage stellt sich natürlich, warum das alles?
Abgesehen von der guten Hautverträglichkeit ist Milchfaser eine Alternative die große Nachfrage der Kleidungsproduktion zu decken.
Baumwolle wird langfristig den steigenden Bedarf nicht nachkommen können. Der derzeitige Hauptproduzent von Baumwolle ist Indien, gefolgt von China, den USA, Pakistan und Brasilien.

Der Anteil der Chemiefasern, die in der gesamten Textilindustrie produziert werden, liegt bei 70% und wird aus Rohöl gewonnen. Aber auch die Rohöl-Ressourcen werden bekanntlich in absehbarer Zeit zur Neige gehen.

Aber auch bzgl. der Milchfaserproduktion stellt sich die Frage, wie viel davon in unseren Breiten produziert werden kann. In Deutschland werden pro Jahr mindestens 2 Mio. Tonnen Milch vernichtet, die sinnvoll für diesen Zweck verwendet werden könnten.
Zurzeit ist Milchfaser ein Luxusprodukt, zwar wesentlich günstiger als Seide, doch deutlich teurer als Baumwolle oder Viskose.
Der Kilopreis liegt bei 25 Euro, während er bei Baumwolle im Schnitt bei 2-3 Euro liegt.

Auf ein ähnlich interessantes Produkt gründet sich das Unternehmen „Atlantic Leather“ in der kleinen Stadt Sauðárkrókur in Island.
Es produziert aus Fischereiabfällen von vier verschiedenen Fischen – Lachs, Barsch, Katfisch und Kabeljau – Fischleder. Jeder Fisch hat seinen eigenen Charakter in Textur und Farbigkeit.
Das Leder ist dünn und glatt und die Entwicklung des Materials ist mittlerweile soweit vorangeschritten, dass das Lachsfischleder sogar bei 60°C gut waschbar ist.

Diese zukunftsweisenden Forschungen versprechen, uns mit dem haptischen Gefühl von Milchfaser, Fischleder und anderer alternativen Materialien in Zukunft genauso vertraut werden zu lassen, wie wir es heute selbstverständlich mit Wolle, Seide oder Leinen sind.