Spitzenstoffe in der Damenbekleidung – billig oder fein?

 

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Industriell gefertigte Spitze aus Polyamid

Während des Seminars tauchte bei mir die Frage auf, welche Materialien Frauen meines Alters bei Unterwäsche bevorzugen. Ich bat meine Interviewpartnerinnen1 mir einen Blick in ihre Kleiderschränke zu gewähren. Beim gemeinsamen Zählen ergab sich, dass in jedem dieser Schränke die Mehrzahl der Wäscheteile zumindest mit einer Spitzenborte, oder einem Einsatz aus Spitze gearbeitet war, wenn es nicht rein aus Spitzenstoffen bestand. Was Spitze ist und woher sie kommt wussten die wenigsten der befragten Frauen. Zur Erklärung möchte ich hier kurz auf die Entstehung der Spitze eingehen und ihre Verarbeitung in der Unterwäsche.

Als Spitze bezeichnet man ein nach kunstvollen Mustern durchbrochenes, textiles Erzeugnis2. Über Jahrhunderte waren Spitzen ein Handarbeitsprodukt. Es gibt zum einen die Nadelspitze, eine Durchbrucharbeit, die in ihrer ersten Form, der sogenannten Reticella Anfang des 16. Jahrhunderts in Venetien entstand. Zum anderen die Klöppelspitze, ebenfalls venezianischen Ursprungs, die technisch aus dem Geflecht entwickelt wurde und für die seit dem 17. und 18. Jahrhundert Flandern berühmt ist. Beide Verfahren sind sehr zeitintensiv und mühsam, weshalb Spitze oftmals nur für Zierarbeiten und Ausputz (Hemdkrägen und Manschetten) verwendet wurde. Da es heute kaum handgearbeitete Spitze gibt, ist sie sehr wertvoll.

Industriell werden heute Spitzenstoffe mit Hilfe der Rascheltechnik, einer besonderen Form der Kettenwirktechnik hergestellt. So lassen sich in kürzester Zeit große Stoffflächen herstellen. Neue, chemische Fasern erleichtern die Verarbeitung und erhöhen den Tragekomfort. Eine maschinell hergestellte Spitze aus einer Viskose-Elastan-Mischung oder Polyamid ist beispielsweise weit elastischer und anschmiegsamer als eine handgearbeitete Klöppelspitze aus Baumwolle und/oder Leinen.

In der Entwicklung der Damenunterwäsche waren zunächst Busenbinde und später Korsett sowie Mieder sehr schlicht gehalten. Wie auch die zunächst wadenlangen Unterhosen wurden Mieder und Korsetts ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vermehrt mit Spitze verziert. Erst seit der Massenproduktion entstand Unterwäsche rein aus Spitzenstoffen.

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Industriell gefertigte Spitze aus Polyester

Ich befragte meine Interviewpartnerinnen zu einem anderen Zeitpunkt in einem Grupperninterview nach ihren spontanen Assoziationen zu Spitzenstoffen. Hier wurden mir Tischdeckchen aus Häckelspitze, T-Shirts aus Jerseystoffen mit Spitzenapplikationen, preisgünstige Abendkleider und Dirndlschürzen aus Organza und Spitze genannt. In diesem Zusammenhang wurde Spitze mit Adjektiven wie „künstlich“, „nuttig“, „altmodisch“ und „billig“ belegt. Zu meinem Erstauen bekam ich auf meine gezielte Nachfrage nach den Eigenschaften der Spitze im Zusammenhang mit Unterwäsche fast gegensätzliche Antworten. Hier wird Spitze als „weiblich“, „sinnlich“, „elegant“, „edel“, „romantisch“ und „hochwertig“ empfunden. Wie kommt es zu diesen gegensätzlich wirkenden Assoziationen?

Es war in den Gesprächen deutlich herauszuhören, dass die Materialität, die Farbe und die Art der Spitze Ausschlag gebend ist und vor allem auch der Einsatz und die Verarbeitung der Spitze. Ein mit schwarzer Seidenspitze verdecktes Dekolleté wird von meinen Interviewpartnerinnen als sinnlich wahrgenommen, wohingegen ein Baumwollrock mit Spitze gleichen Materials am Saum als bieder bewertet wird.

Das Drüber ist zur Präsentation, man stellt etwas oder jemanden dar, die sichtbare Oberbekleidung ist ein Teil der Kommunikation mit den anderen. Bei der Oberbekleidung möchte man nicht als niedlich, altmodisch oder provozierend vulgär wahrgenommen werden.

Das Darunter bleibt versteckt und intim. Es hat sehr viel mehr Bedeutung für die Beziehung der Trägerin mit sich selbst. So kann Spitzenunterwäsche mit ihrer sinnlichen Wirkung durchaus zur Steigerung des Selbstwertgefühls beitragen. Die verschleiernde Durchlässigkeit der Spitze kann, wenn man die nackte Haut hervor blitzen sieht, erotisch anregende Wirkung haben.

Könnte es sein, dass das von außen unsichtbare Tragen von als reizvoll bewerteter Unterwäsche das Empfinden der jungen Frau stärkt, sie verfüge über verführerische Kraft? Und dass das sichtbare Tragen von Spitze mit der Vorstellung einhergeht, wer sich so zeige, habe es nötig, sich und anderen mit einem groben Signal Attraktivität vorzugaukeln?

Bilder aus den Kleiderschränken meiner Interviewpartnerinnen:

 

1 Bei meinen Interviewpartnerinnen handelt es sich um junge Frauen zwischen 20 und 30 Jahren.

2 Ingrid Loscheck: Reclams Mode und Kostümlexikon.Stuttgart 1994., S. 419.