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Körper positiv denken!

Der Duden definiert den Begriff ‚Ideal‘ als „Idealbild; Inbegriff der Vollkommenheit“ oder „als ein als höchster Wert erkanntes Ziel; Idee, nach deren Verwirklichung man strebt“. Schönheitsideale gab es schon immer, doch waren sie auch schon immer, je nach Kultur, Ort und Zeit, sehr unterschiedlich. Das betrifft sowohl die angestrebte bzw. als besonders schön empfundene Körperform, als auch die Frisur, Aussehen der Haut, Schmuck und Kleidung. Der Körper wird durch Bekleiden, Bemalen und Schmücken vom natürlichen zum sozialen Körper, und was einer – meist einflussreichen – Gruppe besonders gut gefällt, wird zur Mode (vgl. Loschek 2007, 194).

Wer bestimmt, was schön ist?

Wer diese einflussreichen Gruppen sind, ändert sich auch im Lauf der Zeit. Waren es früher eher die herrschenden Schichten der Gesellschaft, z. B. am Hof, oder über Generationen überlieferte Traditionen, die vorgaben, was ‚man‘ trägt und wie man sich zu schmücken hat, sind es heute eher bestimmte Profis wie Modedesigner, die Jahr für Jahr aufs neue die Richtung vorgeben, nach der sich eine kommerzielle Modeindustrie sowie der Geschmack von Millionen von KonsumentInnen richten (sollen). Durch die Globalisierung erleben wir einen ungehinderten Informationsaustausch in den Medien, die eine nicht unerhebliche Rolle bei der Verbreitung von Trends und Meinungen spielen. Durch ständiges Zeigen von Bildern und Wiederholen von vermeintlichen Regeln werden diese ständig verstärkt und gefestigt, so dass sie vielen Menschen zu Vorbildern werden. Was in den Medien präsentiert wird, scheint für viele ‚wahr‘ und ‚normal‘ zu sein.

Ideal und Wirklichkeit

Doch zwischen Ideal(-bild) und Realität klafft oft eine Lücke. Viele Menschen haben Angst, nicht normal zu sein oder den Markt-Anforderungen der Gesellschaft nicht zu genügen, z. B. bei der Partner- oder Arbeitssuche. Mancher fühlt sich von den gesellschaftlichen Vorgaben enorm unter Druck gesetzt. Viele Menschen, die sich einer Schönheitsoperation unterziehen möchten, sehen bei sich körperliche Defizite, die nicht einmal existieren, dieses Phänomen nennt sich ‚Body Dysmorphic Disorder‘. Schönheitsoperationen wie Fettabsaugung, Lidstraffung oder Brustvergrößerung zählen heute bereits wie selbstverständlich zum Alltag. Wenn es die Möglichkeit gibt, seinem Ideal näher zu kommen, und man es sich leisten kann, dann tut man es einfach! (DGPRÄC 2016)

Alternativen zum Schönheitsideal

Es gibt aber auch gesellschaftliche Bewegungen, die dem übermäßigen Streben nach ‚Schönheit‘ widersprechen. Bereits der Feminismus im 20. Jahrhundert vertrat die Auffassung, dass es wesentlich wichtigeres gibt als das äußere Erscheinungsbild, nämlich Gesundheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Bildung, Arbeit, usw. Eine relativ neue Bewegung, die sich ‚Body Positive Movement‘ nennt, propagiert ein positives Verhältnis zu seinem eigenen Körper – egal, ob dieser den momentan gängigen Idealen entspricht oder nicht. Jeder Körper ist ein guter Körper. Hier wird versucht, von einem für alle gültigen ‚Standard-Modell‘ wegzukommen und jedem einzelnen Menschen zuzugestehen, sich in seinem individuellen  Körper einfach so  wohl wie möglich zu fühlen, ihn zu akzeptieren, anstatt nur auf Kritik der anderen zu hören und möglicherweise unerreichbare Ziele zu verfolgen. Dieser respektvolle Umgang beginnt mit der Sprache: Diskriminierende oder beleidigende Ausdrücke und Formulierungen sollen vermieden werden, um eine Bewertung der verschiedenen Körper zu verhindern (CBC 2015).

Wie reagiert das Netz?

Da dieser Diskurs heute natürlich hauptsächlich auf verschiedenen Internet-Plattformen stattfindet und somit wirklich jeder daran teilnehmen kann, sind die Antworten auf die Beiträge sehr divers und zum Teil alles andere als sachlich. Mache GegnerIn des Body Positive Movement maßt sich an, über von der ‚Norm‘ abweichende Menschen generalisierend zu urteilen bzw. sie und deren Lebensstil zu verurteilen – obwohl sie diese ja in der Regel gar nicht kennt. Auch Hassbotschaften müssen Aktivisten häufig ertragen, die sich öffentlich zu ihrem Körper bekennen und versuchen, anderen Mut zu machen, die noch nicht so viel Selbstvertrauen haben. Dabei geht es nicht darum, einfach ein neues Ideal für alle zu schaffen, sondern dem Individuum im Rahmen des sozialen Gefüges mehr Bedeutung zu geben.
Ob sie  nun übergewichtig, fettleibig, kleinwüchsig, transgender sind, oder sich durch eine medizinische Anomalie optisch von den meisten anderen Menschen abheben: Sie versuchen, die Gesellschaft dahingehend zu beeinflussen und zu verändern, dass künftig statt Ausgrenzung und Diskriminierung die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit der Individuen zum Normalzustand und ein besseres Miteinander die Regel wird (vgl. Erickson).

Literatur und Links:

Braun, C., Gründl, M., Marberger, C. & Scherber, C. (2001). Beautycheck – Ursachen und Folgen von Attraktivität. Projektabschlussbericht. [pdf-Dokument]. Verfügbar unter:
http://www.beautycheck.de/cmsms/index.php/der-ganze-bericht

Canadian Broadcasting Service/TheNational: The Body Positive Movement gains momentum. In: The Sunday Talk 16.4.2015. https://www.youtube.com/watch?v=bvrYaCId1Js.

Davids, Miriam: Körper im Spiegel der Gesellschaft: Die soziale Bedeutung der Attraktivität. Saarbrücken, 2012.

Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen: Website. http://www.dgpraec.de/news/single-news/?no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=307

Erickson, Alexa: How To Learn To Love Your Body. Website: Collective Evolution, 5.12.2015. http://www.collective-evolution.com/2015/12/05/how-to-learn-to-love-your-body-forget-societal-standards/

Loschek, Ingrid: Wann ist Mode? Strukturen, Strategien und Innovationen. Berlin, 2007.

Schwilden, Frédéric: Es ist eben nicht jeder Körper ein Bikini-Körper. In: Die Welt online, 14.3.2016. http://www.welt.de/kultur/article153272915/Es-ist-eben-nicht-jeder-Koerper-ein-Bikini-Koerper.html

Mode von der Stange – ganz normal?

 

 

Idealer Körper?

Idealer Körper?

Gehören Sie zu den Glücklichen, die in einer Boutique in die erste schicke Hose schlüpfen, und sie sitzt wie angegossen? Oder ist es eher so, dass Sie verzweifelt wieder von dannen ziehen, weil auch das zehnte Modell einfach nicht passen will, das Sie anprobiert haben? Im Zuge der beginnenden Massenproduktion von Konsumgütern wurde der Alltag sukzessive normiert. In der privaten sowie industriellen Herstellung von Kleidung dienen beispielsweise seit 1863 Schnittmuster in standardisierten Konfektionsgrößen als Vorlage. Die Bekleidungs­hersteller können sich bei der Produktion, wenn sie wollen, nach diesen Tabellen richten – aber welcher Körper entspricht schon an DIN EN 13402? Außerdem haben sich die durchschnittlichen Körpermaße und -Proportionen der Weltbevölkerung über die Jahrzehnte ständig verändert, sodass Größenangaben an Kleidungsstücken bestenfalls als grobe Orientierung dienen können.

Obwohl man das System bereits um lange, kurze, schlanke und untersetzte Größen erweitert hat, fallen in Deutschland etwa 100.000, weltweit über 250.000 Menschen komplett durch dieses Raster: Kleinwüchsige, deren Körperlänge (als Erwachsene) nur zwischen 70 und 150 cm liegt gehören nicht zu den 90% der Bevölkerung, die im sogenannten Normbereich liegen. Für viele von ihnen ist Kleiderkauf noch viel frustrierender als für uns. Die Suche nach passender Kleidung führt meist entweder in die Kinderabteilung oder zum Schneider. Doch wie man sich leicht vorstellen kann, wird ein Erwachsener mit der angebotenen Kindermode wahrscheinlich kaum zufriedenzustellen sein, man muss die Kleidung schließlich im Alltag bei der Arbeit tragen und möchte dort angemessen und schick auftreten. Maßgeschneidertes wiederum kann sich nicht jede/r leisten. Kleidung gehört zu den Mitteln, mit denen wir gerne unsere Identität herstellen und optisch ausdrücken möchten. Dass wir uns darin wohlfühlen möchten, gehört natürlich auch dazu. Gleichzeitig drücken wir durch die Art uns zu kleiden unsere Zugehörigkeit zur Gemeinschaft aus – wer das nicht kann, fühlt sich ausgegrenzt.

Die junge Berliner Modedesign-Studentin Sema Gedik wurde durch eine kleinwüchsige Verwandte auf das Problem aufmerksam und rief ein ehrgeiziges Projekt ins Leben: Ihr Wunsch, mit ihrer Arbeit etwas Positives in der Gesellschaft zu bewirken, brachte sie auf die Idee, eine Kollektion für kleine Leute zu entwerfen, um diese in Sachen Mode gleich­berechtigt zu behandeln. Sie meisterte dabei im Rahmen ihrer Bachelorarbeit viele Herausforderungen: Ein komplettes Umdenken ihrerseits in Bezug auf die Körperproportionen der Kleinwüchsigen war gefragt, keins der ,normalen‘, erprobten, eingeübten Denkmuster funktionierte hier. In mühsamer Detaillarbeit vermaß sie kleine Menschen, deren Vertrauen sie zunächst einmal gewinnen musste, da diese oft diskriminiert, unterschätzt oder übersehen werden und ein gewisses Misstrauen mitbringen, wenn sie plötzlich so viel Aufmerksamkeit bekommen. Ein Dokumentarfilmer begleitete ihre Projektarbeit. Der Aufwand hat sich bereits jetzt gelohnt. Sema Gedik und ihre Models präsentierten das Label Auf Augenhöhe im Juli 2015 mit ihrer ersten Kollektion sehr erfolgreich auf der renommierten Fashion Week in Berlin.

Die mediale und damit gesellschaftliche Aufmerksamkeit hat seither stark zugenommen, viele Anfragen, Interviews und Presseartikel folgten. Es wurde klar, dass die junge Modedesignerin hier einen Nerv getroffen hatte und diese erste Kollektion (hoffentlich) nur der Anfang einer Erfolgsstory ist. Möglicherweise lässt das Interesse aber auch schnell wieder nach, da die Medien oft nach schnellen Effekten suchen und sich nicht mit der wirklichen Problematik auseinandersetzen wollen. Sema Gedek denkt jedenfalls langfristig: Ihr nächstes Ziel ist das Erstellen einer internationalen Konfektions­größen­tabelle für kleine Menschen, damit für diese in Zukunft bezahlbare Kleidung von der Stange produziert werden kann. So könnte eine größere modische Vielfalt entstehen, welche die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der menschlichen Körperformen besser als bisher widerspiegelt.

Literatur und Links:

Bundesselbsthilfeverband kleinwüchsiger Menschen: e.V.: Probleme. Info-Website http://www.kleinwuchs.de/kleinwuchs/probleme.html

Gruschka, Andreas: Kleider machen Leute. Das Abweichende als das neue Ideal. Pädagogische Korrespondenz (1998) 23, S. 84-92.

MDR: Leben mit Behinderung. In: selbstbestimmt! Das Magazin. Sendung vom 6.3.2016. http://www.mdr.de/mediathek/fernsehen/a-z/sendung640876_ipgctx-false_zc-ba8902b5_zs-73445a6d.html

ONIK: http://onikcollective.com

WDR: Raus aus der Kinderabteilung. Audio vom 8.2.2016. http://www1.wdr.de/radio/funkhauseuropa/mode-fuer-kleinwuechsige-102.html

Bildnachweis: Schaufensterpuppen, Museum für Alltagskultur Waldenbuch (Foto privat).