Mode von der Stange – ganz normal?

 

 

Idealer Körper?

Idealer Körper?

Gehören Sie zu den Glücklichen, die in einer Boutique in die erste schicke Hose schlüpfen, und sie sitzt wie angegossen? Oder ist es eher so, dass Sie verzweifelt wieder von dannen ziehen, weil auch das zehnte Modell einfach nicht passen will, das Sie anprobiert haben? Im Zuge der beginnenden Massenproduktion von Konsumgütern wurde der Alltag sukzessive normiert. In der privaten sowie industriellen Herstellung von Kleidung dienen beispielsweise seit 1863 Schnittmuster in standardisierten Konfektionsgrößen als Vorlage. Die Bekleidungs­hersteller können sich bei der Produktion, wenn sie wollen, nach diesen Tabellen richten – aber welcher Körper entspricht schon an DIN EN 13402? Außerdem haben sich die durchschnittlichen Körpermaße und -Proportionen der Weltbevölkerung über die Jahrzehnte ständig verändert, sodass Größenangaben an Kleidungsstücken bestenfalls als grobe Orientierung dienen können.

Obwohl man das System bereits um lange, kurze, schlanke und untersetzte Größen erweitert hat, fallen in Deutschland etwa 100.000, weltweit über 250.000 Menschen komplett durch dieses Raster: Kleinwüchsige, deren Körperlänge (als Erwachsene) nur zwischen 70 und 150 cm liegt gehören nicht zu den 90% der Bevölkerung, die im sogenannten Normbereich liegen. Für viele von ihnen ist Kleiderkauf noch viel frustrierender als für uns. Die Suche nach passender Kleidung führt meist entweder in die Kinderabteilung oder zum Schneider. Doch wie man sich leicht vorstellen kann, wird ein Erwachsener mit der angebotenen Kindermode wahrscheinlich kaum zufriedenzustellen sein, man muss die Kleidung schließlich im Alltag bei der Arbeit tragen und möchte dort angemessen und schick auftreten. Maßgeschneidertes wiederum kann sich nicht jede/r leisten. Kleidung gehört zu den Mitteln, mit denen wir gerne unsere Identität herstellen und optisch ausdrücken möchten. Dass wir uns darin wohlfühlen möchten, gehört natürlich auch dazu. Gleichzeitig drücken wir durch die Art uns zu kleiden unsere Zugehörigkeit zur Gemeinschaft aus – wer das nicht kann, fühlt sich ausgegrenzt.

Die junge Berliner Modedesign-Studentin Sema Gedik wurde durch eine kleinwüchsige Verwandte auf das Problem aufmerksam und rief ein ehrgeiziges Projekt ins Leben: Ihr Wunsch, mit ihrer Arbeit etwas Positives in der Gesellschaft zu bewirken, brachte sie auf die Idee, eine Kollektion für kleine Leute zu entwerfen, um diese in Sachen Mode gleich­berechtigt zu behandeln. Sie meisterte dabei im Rahmen ihrer Bachelorarbeit viele Herausforderungen: Ein komplettes Umdenken ihrerseits in Bezug auf die Körperproportionen der Kleinwüchsigen war gefragt, keins der ,normalen‘, erprobten, eingeübten Denkmuster funktionierte hier. In mühsamer Detaillarbeit vermaß sie kleine Menschen, deren Vertrauen sie zunächst einmal gewinnen musste, da diese oft diskriminiert, unterschätzt oder übersehen werden und ein gewisses Misstrauen mitbringen, wenn sie plötzlich so viel Aufmerksamkeit bekommen. Ein Dokumentarfilmer begleitete ihre Projektarbeit. Der Aufwand hat sich bereits jetzt gelohnt. Sema Gedik und ihre Models präsentierten das Label Auf Augenhöhe im Juli 2015 mit ihrer ersten Kollektion sehr erfolgreich auf der renommierten Fashion Week in Berlin.

Die mediale und damit gesellschaftliche Aufmerksamkeit hat seither stark zugenommen, viele Anfragen, Interviews und Presseartikel folgten. Es wurde klar, dass die junge Modedesignerin hier einen Nerv getroffen hatte und diese erste Kollektion (hoffentlich) nur der Anfang einer Erfolgsstory ist. Möglicherweise lässt das Interesse aber auch schnell wieder nach, da die Medien oft nach schnellen Effekten suchen und sich nicht mit der wirklichen Problematik auseinandersetzen wollen. Sema Gedek denkt jedenfalls langfristig: Ihr nächstes Ziel ist das Erstellen einer internationalen Konfektions­größen­tabelle für kleine Menschen, damit für diese in Zukunft bezahlbare Kleidung von der Stange produziert werden kann. So könnte eine größere modische Vielfalt entstehen, welche die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der menschlichen Körperformen besser als bisher widerspiegelt.

Literatur und Links:

Bundesselbsthilfeverband kleinwüchsiger Menschen: e.V.: Probleme. Info-Website http://www.kleinwuchs.de/kleinwuchs/probleme.html

Gruschka, Andreas: Kleider machen Leute. Das Abweichende als das neue Ideal. Pädagogische Korrespondenz (1998) 23, S. 84-92.

MDR: Leben mit Behinderung. In: selbstbestimmt! Das Magazin. Sendung vom 6.3.2016. http://www.mdr.de/mediathek/fernsehen/a-z/sendung640876_ipgctx-false_zc-ba8902b5_zs-73445a6d.html

ONIK: http://onikcollective.com

WDR: Raus aus der Kinderabteilung. Audio vom 8.2.2016. http://www1.wdr.de/radio/funkhauseuropa/mode-fuer-kleinwuechsige-102.html

Bildnachweis: Schaufensterpuppen, Museum für Alltagskultur Waldenbuch (Foto privat).