Eine Ode an die Zunge

Mit der Sommerzeit beginnt auch die Zeit der süßen Früchte. Die Marktstände laufen über vor roten Erdbeeren, prallen Kirschen und saftigen Pfirsichen. Auch das Gemüse strahlt in kräftigen Farben um die Wette. Ein wahres Fest für die Sinne – besonders für die Augen.

Wie sieht die Erdbeere aus? Natürlich rot, oben ein grüner Büschel Erdbeerblätter. Und wie schmeckt eine Erdbeere? Süß, erdig. Weiter wird meist nicht gefragt. Aber man kann weiter fragen. Zum Beispiel: Wie fühlt sich die Erdbeere an? Ihre Oberfläche, ihr Inneres?

Genau das ertasten wir bei jeder Nahrungsaufnahme. Gibt die Zunge ihr ok, wird die Nahrung bedenkenlos zerkaut und geschluckt, stimmt etwas nicht, schlägt die Zunge Alarm. So werden spitze Gegenstände, wie beispielsweise Fischgräten erkannt und als ‚gefährlich‘ an das Gehirn gemeldet. Dieser multitalentierte Muskel bewirkt Erstaunliches. Er ist extrem beweglich und koordiniert dadurch unser Sprechen, das Saugen und Schlucken – aber vor allem ist die Zunge das Sinnesorgan für das Schmecken und gleichzeitig der empfindlichste Ort der Tastempfindung. Ist etwas zu heiß, spüren wir es mit der Zunge. Jeder hat sich schon einmal die Zunge verbrannt und keiner hat danach das heiße Getränk weiter konsumiert, sondern wartet vielmehr, bis es kälter wird.

So kontrolliert die Zunge die Nahrung auf ihre mechanischen Eigenschaften und zum anderen sucht die Zunge den Mund nach dem Essen nach Resten ab.

Der Tastsinn rückte über die letzten Jahrhunderte in der Hierarchie der Sinne immer weiter nach hinten, bis er schließlich auf dem letzten Platz landete. Hören und vor allem Sehen sind und waren die zentralen Sinne. Dass aber der Tastsinn für den Menschen trotzdem eine wichtige Rolle spielt, erkannte der deutsche Philosoph Karl Christian Friedrich Krause zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Vor allem der Zunge misst er einen hohen Stellenwert zu:

„Gewöhnlich nimmt man an, dass das Tastgefühl vorwaltend in den Spitzen der Finger, der Hände und der Füße sey. […] Aber zunächst stellt sich doch auch die Zunge dar, als in dieser Hinsicht eben so fein für das Tasten organisiert: so dass man sagen kann: die Zunge ist an sich ein noch vollkommeneres Tastwerkzeug, als die Finger. Ueberlegen wir z.B., wie fein das Gefühl der Zunge wirken muss, schon beim Kauen, und bei dem Hinundherlegen Dessen, was gekaut wird, im Munde, und wie noch weit feiner die Bewegungen Zunge sind beim Reden.“[1]

Nicht nur der Seh- und Geschmackssinn spielen bei der Essensaufnahme eine wichtige Rolle, sondern auch der Tastsinn. Ein Konglomerat aus allen Sinnen ohne Hierarchisierung macht das Essen zum Erlebnis. Die Zunge wird dabei leider oft außen vor gelassen.

[1] Karl Christian Friedrich Krause: Die Lehre vom Erkennen und von der Erkenntnis, als erste Einleitung in die Wissenschaft. In.: Hermann Karl von Leonhardi (Hg.): s.o.. Göttingen 1836, S. 257f.

Mit der Zunge tasten - ein Tastversuch mit den Seminarteilnehmer/innen

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