Schlafanzug, Nachthemd, Negligé oder Nichts? Was zieht man an im Krankenhaus? Ist neben Bequemlichkeit und Hygiene auch hier der Blick der Anderen (vgl. http://blog.kulturding.de/?p=3867) ein maßgebliches Kriterium? Was will man darstellen im sonst höchst privaten Schlafanzug – und was gerade nicht?
Anamnese: Nachtwäsche-Notstand?
Jeder siebte Nachtwäscheartikel wird angeschafft, weil ein Krankenhausaufenthalt bevorsteht, besagt eine Umfrage der GfK.[1] Da 30 % der Deutschen für gewöhnlich im normalen T-Shirt oder nackt (12,5 %)[2] schlafen, geraten gerade diese Gruppen in die Bredouille, wenn plötzlich ein Krankenhausaufenthalt bevorsteht. Eiligst muss ein Schlafanzug oder ein Nachthemd her. Doch welche Kriterien muss Nachtwäsche für einen Klinikaufenthalt erfüllen? Dass es bei diesen Kaufentscheidungen neben Nützlichkeitserwägungen auch um Inszenierungstaktiken geht, belegen Aussagen von Expertinnen aus dem Nachtwäsche-Verkauf.
Symptome: Sportlich, unkompliziert und bunt
Die Produktmanagerin der Textil-Firma Mey ist sich sicher: Nachtwäsche für Krankenhausaufenthalte soll lässig, unkompliziert und bequem sein. Dabei hübsch, sauber und ordentlich wirken, jedoch auf keinen Fall körperbetont sein oder gar sexy wirken, beliebt seien daher der Casual und Weekend-Style. En vogue seien buntere Modelle, weil frau sich in der Klinik nicht schminken könne und trotzdem etwas Farbe transportieren wolle. [3] Ähnliches beobachtet eine Verkäuferin in der Nachtwäscheabteilung des Modehauses ZINSER. Sportlich und bequem hieße hier die Devise. Gerne gekauft würden Mix-Modelle, bei denen Oberteil und Hose frei kombinierbar seien. Unterschiedliche Präferenzen gäbe es hinsichtlich des Materials. Während Ältere zu Baumwolle tendieren, mögen Jüngere Nachtwäsche aus Modal, einer aus Buchenholz-Zellstoff hergestellten ungewohnt weichen Faser. Neue Aspekte kommen mit Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit ins Spiel, als die Verkäuferin auf die bluesign®[4] zertifizierten Produkte der Firma Mey verweist. Das Kaufargument hierfür sei, dass gerade kranke Menschen ihren Körper nicht zusätzlich durch potentiell gesundheitsschädliche Chemikalien in Textilien belasten möchten.[5]
Diagnose: Die Sprache der Nachtwäsche – oder: was sagt der Jogging-Anzug?
Was bedeuten die bevorzugten Materialeigenschaften für die Repräsentationsstrategien der Wäsche-Besitzerinnen? Was nützt nur einem selbst – und was dient der Inszenierung für die anderen? Während Bequemlichkeit, angenehme Stoffbeschaffenheit, auch Umweltfreundlichkeit als ‚eigennützig‘ verstehbar sind, können fast alle anderen Attribute als Inszenierungstaktiken mit Appellcharakter gelesen werden. Man will vor allem gut behandelt werden: Im Krankenhaus soll die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Ärzteschaft befördert werden – gleichzeitig will man auf Besucher zwar hilfsbedürftig, jedoch nicht ‚abschreckend‘ wirken. Vermutlich bedient saubere, hübsche, ordentliche Nachtwäsche genau das, Eitelkeiten finden eher niedrigschwellig und subtil statt. Auf sexuelle Konnotationen durch Spitzen-Dessous oder Negligés wird in der Klinik jedoch tunlichst verzichtet, denn dies könnte vom Krankheitsstatus ablenken oder ihn gar ernsthaft in Frage stellen. Interessant ist ebenso der gewollt ‚sportliche‘ Charakter mancher Krankenhaus-Outfits. Jogging-Anzüge im Krankenbett und Klinikflur sind nicht nur unkompliziert und bequem, sie lassen auch jedwede, noch so peinlich empfundene Krankheit als heldenhafte Sportverletzung aussehen. Der sportliche Aufzug im Krankenhaus als sichtbares Zeichen ist ein Versprechen, er ist Bindeglied zwischen Innen- und Außenwelt. Der Jogging-Anzug beruhigt und entlastet die Angehörigen, er signalisiert den Willen zur Genesung und kündigt Praktiken der Selbstoptimierung an: Wir arbeiten an uns – und kommen bald nach Hause.
[1] Deutsche sind keine Nacktschläfer. http://www.stern.de/lifestyle/mode/studie-deutsche-sind-keine-nacktschlaefer-3297474.html (Zugriff: 21.02.2016).
[2] Antje Gießelmann: Keine Blöße im Bett. GfK/TW-Kundenmonitor zeigt, was deutsche Männer und Frauen nachts im Bett tragen. In: TextilWirtschaft, 17, 29.04.2001, S. 70. http://www.textilwirtschaft.de/suche/show.php?ids[]=161697 (Zugriff: 15.02.2016).
[3] Telefonat mit Maria Ritsch, Produktmanagement Damen, Fa. Mey, Albstadt, 22.01.2016.
[4] Das Label Bluesign® product wird von einem Schweizer Zertifizierungsunternehmen verliehen, es steht für eine ressourcen- und umweltfreundliche Produktion, für Arbeitsprozesse unter höchsten Sicherheitsaspekten, für Verbraucherschutz durch Ausschluss problematischer Stoffe, für Gewässerschutz und damit für ein unbedenkliches Endprodukt. http://bluesign.mey.de/die_fuenf_prinzipien_des_bluesign_system.htm (Zugriff: 21.02.2016).
[5] Interview mit Frau Weber, Verkäuferin der Nachtwäscheabteilung, Fa. ZINSER, Tübingen, 09.02.2016.