Helle Tupfer im grauen Alltag.
Welche Farbe haben Zähne? Weiß, natürlich. Weiß? Natürlich? Auf den ersten Blick, vielleicht. Doch wehe dem, der genauer hinsieht! Kennern ist die Komplexität der Zahnlage bekannt. Und ihre trübe Wahrheit. „Ganz weiß gibt es bei Zähnen nicht“, desillusioniert mich ein angehender Zahnmediziner, also einer, der es wissen muss. Es sei immer ein Stich Rot, Grün oder Gelb dabei. Ganz so klar, wie sie alltagssprachlich erscheint, ist die Sache also nicht. Die Zahnfarbe variiert. Zahnkundler ordnen sie in Farbpaletten mit Kürzeln von A bis D und von eins bis vier, von bräunlich bis gräulich.
Laien, wie mir, erschließen sich solche Farbnuancen nur schwer. Etwas heller, etwas dunkler, gut. Aber Braungrüngrau? Wie unsexy. Ich mag es nicht glauben, ich meine: Sind unsere Zähne nicht doch irgendwie weiß? Glaubt man den frohen Botschaften vieler Zahnpastatuben, dann sind unsere Zähne sogar UltraMegaMaxWhite – und das von Natur aus. Wäre da nicht der Zahn der Zeit. Denn der nagt an uns, und schlimmer noch: Er verfärbt unser Gebiss. „Oft legt sich ein gelblicher Schleier über die Zähne“, lese ich in dem Flyer einer Praxis für Zahnkosmetik. Sie hat sich auf Zahnaufhellungen spezialisiert und verspricht: „Mit Bleaching bringen wir die natürliche Schönheit Ihrer Zähne wieder zum Strahlen – natürlich weiße Zähne wirken gesünder und attraktiver.“
Täglich putzt, wer strahlen will?
Also doch: Unter den archäologischen Schichten der Vergänglichkeit soll es verborgen sein, das wahre Gesicht unserer Zähne, ihr ureigener Glanz – ihr natürliches Weiß: makellos, gesund, jung und schön, ästhetisch und moralisch vollkommen. Reine Weißmalerei? Jedenfalls haben alle Bleachingverheißungen einen klaren argumentativen Kern. Das strahlende Weiß soll nicht Schein sein, es soll zum Vorschein kommen, endlich zutage treten als die eigentliche, wahre Farbe der Zähne. Es soll von innen kommen, aus dem Körper heraus, und den Schleier der Verfärbungen von Kaffee, Zigaretten und Rotwein durchbrechen. Es soll die Zahnnatur selbst sein.
In diesem Sinne verheißt Bleaching nicht nur blendend weiße Zähne, sondern auch mehr Natürlichkeit. Ein Paradoxon? Ist, wo von Natürlichkeit die Rede ist, nicht vielmehr Künstlichkeit gemeint? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Denn Natürlichkeit ist nicht gleich Natur. Damit etwas als natürlich gilt, muss sich die Natur herausputzen. Natürlichkeit erfordert die Hand des Menschen: natürlich ist kultürlich. Natürlichkeit ist aber auch nicht gleich Künstlichkeit. Sie liegt, gewissermaßen, zwischen der Rohheit der Natur und den Überformungen der Künstlichkeit. Sie ist eine ganz bestimmte kulturelle Formung der Natur, der Weg zu einer vorgestellten ‚wahren Natur‘, eine ideale Ordnung der Natur. Natürlichkeit ist Kunst und Konzept, im Kant’schen Sinne: Nicht Natur, aber schön wie die Natur. Oder sogar noch etwas schöner. Natürlichkeit ist vor allem ein schmaler Grad. Denn die Grenze zur Künstlichkeit ist stets bedrohlich nah.
Dem ist sich auch mein Experte bewusst. „Perlweißglanz, das ist natürlich, finde ich, total unästhetisch“, meint er. „Das hat eher Charme, wenn man vielleicht auch eine Zahnlücke oder ein bisschen was Krummes drin hat. Und nicht nur irgendwie weiß und kerzengerade.“ Sagt er – und strahlt mich mit wohlgeformten, weißen, ja, wirklich weißen, kerzengeraden Zähnen an. Ich presse meine Lippen zu einem zaghaften Lächeln. Mehr traue ich mich nicht. Ich bin schließlich desillusioniert.