Wer hat Angst vorm schwarzen Strumpf?

Kinderunterwäsche 1920 bis 1950 – Erinnerungen und Emotionen

Die Gespräche mit vier Frauen und einem Mann, zwischen 73 und 92 Jahren, zu der Frage, was sie als Kinder „darunter“ getragen haben, ergaben zwei signifikante Gemeinsamkeiten:
Sowohl Mädchen als auch Jungen trugen ein Leibchen und lange Wollstrümpfe.
Auf die Frage an meine Mitstudierenden, was denn ein Leibchen sei, kamen die erwarteten Antworten: eine Art Unterhemd, ein Oberteil für den Sport. Richtige Antworten natürlich.
Heute.
Dieselbe Frage an Personen der Generation 70+ liefert ein anderes Ergebnis:

Warum ist das Leibchen in Vergessenheit geraten? Wir kennen doch auch andere, heute nicht mehr getragene Kleidungsstücke: Korsetts, Reifröcke, usw., deren beste Zeiten noch viel länger zurück liegen. Die von mir befragten Personen bringen das Leibchen meist mit unangenehmen Gefühlen in Verbindung, da in die daran befestigten Strapse die langen kratzigen Wollstrümpfe eingehängt wurden, die sie heute lieber vergessen wollen. „Ich darf gar nicht mehr daran denken, sonst juckt es am ganzen Körper“ (Willi, 77 Jahre).

Abb. 4 Junge mit Leibchen und Langen Strümpfen

Abb. 4
Junge mit Leibchen und langen Strümpfen

Es liegt die Vermutung nahe, dass Jungen Leibchen und Strümpfe besonders ungern getragen haben, da sie diese als „Mädchenkleidung“ empfanden, die erst im Alter von etwa 14 Jahren gegen „Erwachsenenkleidung“, (lange Hosen) getauscht wurde. Der von mir befragte Mann bekam mit ca. 11 Jahren (1948) von seinem, ein Jahr älteren Cousin, der in den USA lebte, dessen abgetragene lange Hosen. Um diese wurde er von den Jungen im ganzen Dorf beneidet.

Auch die interviewten Frauen wuchsen in einem Dorf auf. Alle, bis auf Ella (92), stammen aus Bauern,- bzw. Weingärtnerfamilien. Ellas Eltern betrieben ein Bauunternehmen und besaßen bereits in den 1920er Jahren ein Automobil und ein Telefon. Sie betont auch, dass ihre Leibchen von der örtlichen Weißzeugnäherin gefertigt und am Halsausschnitt mit Spitzen besetzt waren. Von der Funktion her war das Leibchen zwar eher ein Nutzgegenstand aber „speziell im Bereich der Kleidung […] könnten Zuordnungen zu schicht-, geschlechts- und altersspezifischen Lebensformen nachgezeichnet werden.“ [1] Ella ist die Einzige, die ihre langen Strümpfe nicht als unangenehm beschreibt, was vermutlich am verwendeten Material liegt.

Mit Luise und Ursula (beide 73 Jahre) habe ich ein gemeinsames Gespräch geführt. Sie kennen sich seit ihrer Schulzeit. Beide erinnern sich noch gut an ihre Kinderunterwäsche. Wie alle Mädchen trugen sie Unterhosen, teilweise aus Wolle aber auch aus angerautem (Baumwoll?) Stoff oder später auch Trikotware. Über das Unterhemd kam dann das „fleischfarbene“ Leibchen, an dem die langen Wollstrümpfe befestigt wurden. Diese werden von den beiden Damen am ausführlichsten kommentiert. In den 1940er Jahren wurden Strümpfe häufig aus Zellwolle [2] hergestellt. Luise erzählt wiederholt von den Holzstückchen, die sie aus ihren Strümpfen gezupft hat und Ursula erklärt, wie sie dieselben dehnte, indem sie in alle Richtungen an ihnen zog.

Abb. 5 Die Volkssocke (aus Zellwolle?)

Abb. 5
Die Volkssocke (aus Zellwolle?)

Die Unterhaltung bestand hauptsächlich aus dem Dialog der beiden Frauen. Dabei war interessant zu verfolgen, wie sie sich wechselseitig ihrer Erinnerungen versicherten: „ Weißt du noch,  ……“ , „war das bei dir auch so…….?“ [3]

Marta (84), die Schwester von Willi, bekam als Jugendliche, ebenfalls aus den USA, zwei Garnituren Seidenunterwäsche, die sie von ihrer bisherigen Qual mit selbstgestrickten Wollunterhosen befreiten. Da sie (bis heute) sehr empfindliche Haut hat und diese durch den Kontakt mit Wolle immer aufgekratzt war, erinnert sie sich noch sehr genau an das angenehme Gefühl der neuen Wäsche und die Sorgfalt, mit der sie diese immer gepflegt hat.

Jeder Körper hat ein Gedächtnis und besitzt seine eigene Geschichte. „Dem Leib schreiben sich die Ereignisse ein.“ [4]  Solche Ereignisse können auch das tägliche Anziehen und Tragen von Kleidungsstücken sein, die sich dem Körper(gedächtnis) einprägen. Sie können das Körpergefühl langfristig beeinflussen und noch Jahre später Affekte auslösen: „Es juckt heute noch, wenn ich daran denke…“, „der Wollschlüpfer war so schrecklich, ich war dauernd aufgekratzt.“

Die Welt der Dinge ist die Form, in die die Körper mit mehr oder weniger Nachdruck und Erfolg gepreßt werden, und auch da, wo Widerstand geleistet wird, hinterlassen die Dinge zumindest Druckstellen und Muster.“ [5]


Quellen:

[1] Jeggle, Utz: Lebensalter und Körperleben. In: Arthur E. Imhof: Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit. Internationales Colloquium. Berlin 1981 (=Berliner historische Studien, Bd. 9, Einzelstudien/II). Berlin 1983.

[2] Zellwolle: Historischer Begriff für künstlich hergestellte Stapelfasern auf Viskose- oder Acetatbasis. Mithilfe von Kunstharzausrüstungen wurde Zellwolle in Anlehnung an die imitierte Naturfaser gekräuselt (als W-Type wollartig, als B-Type baumwollartig) – aber hier handelt es sich wohl eher um Zelluloseregeneratfaser: Fasern aus regenerierter Zellulose, die aus gelösten Pflanzenbestandteilen wie Holzabfällen, Baumwoll-Linters oder Kartoffelkraut hergestellt und durch Düsen ausgepresst werden.
Aus Glossar in: Hinrichsen, Torkild (Hg.): Leibhaftig – Doppelripp und Spitzentraum. Zur Kulturgeschichte der Unterwäsche. Husum 2011, S. 151.
[3] Die Unterhaltung lässt an die Begriffe Erinnerungskultur, Kommunikatives und Kulturelles Gedächtnis denken, die Assmann in seinem Text beschreibt. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 31f.
[4] Foucault, Michel: Zitiert in: Köhle-Hezinger: Der schwäbische Leib. In: Johler, Reinhard; Tschofen, Bernhard (Hg.): Empirische Kulturwissenschaft. Eine Tübinger Enzyklopädie. Tübingen, 2008, S. 468.
[5] Jeggle, Utz: Im Schatten des Körpers. Vorüberlegungen zu einer Volkskunde der Körperlichkeit. In: Tschofen, Bernhard u.a.: Das Fremde im Eigenen. Beiträge zur Anthropologie des Alltags. Tübingen 2014, S. 184.

Abb. 1 bis 3: Privat.

Abb. 4 und 5: Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Strumpfmuseums http://www.deutsches-strumpfmuseum.de/  (Zugriff 04.08.2014)