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Die Relevanz der Seidenblousons

Läden sind die Bühnen der Mode, findet die Kulturwissenschaftlerin Gertrude Lehnert.[1] Sie hebt nicht nur die wichtige Rolle des Raumes heraus, in dem Kleidung anprobiert und gekauft wird, sondern fokussiert auch das Kaufen selbst als determinierte und gleichzeitig ermächtigende Interaktion zwischen Käufer*in, Raum und Ware. Was enthüllt der Blick auf die Bühne der Second-Hand-Mode darüber? Welche Stücke werden dort anprobiert, vor- und aufgeführt? Welche textilen Stoffe werden aufgetragen, welche Geschichten weitergesponnen? Vorhang auf, raus aus der Umkleidekabine und hinein ins Vergnügen…

Ein Second-Hand-Shop im Fluxus, der Stuttgarter Liebelei mit dem Zeitgeist.

Ein Second-Hand-Shop im Fluxus, der Stuttgarter Liebelei mit dem Zeitgeist.

Vorhang auf…

Ein Second-Hand-Shop im Fluxus, der Stuttgarter Liebelei mit dem hippen Zeitgeist.[2] Den Shop gibt es schon lange – seit 1995 in Vaihingen, in Stuttgart seit 1997. Letztes Jahr ist er in den Fluxus umgezogen, eine ehemalige Luxusshoppingpassage, in der jetzt kleine Startups und Stuttgarter Designer*innen ihre Waren anbieten. Im Shop gibt es neben Kleidung auch Platten aus zweiter Hand, Buttons, Notizbücher und ein kleines bisschen Kunst. Das Schaufenster ist bunt und voll, es läuft Musik, die Atmosphäre ist familiär und gemütlich. Manche Kundin verbringt mehrere Stunden zwischen den Ständern und hinter den Vorhängen der Kabinen. Schüler*innen, Student*innen, junge Familien aber auch „Damen“ – wie Christian[3], einer der Besitzer, sie nennt – kaufen hier ein. Die Kleidung kommt von Privatpersonen und vom Großhändler. Der verkauft auch nach Berlin, erzählt Christian. Der Großhändler berichtet ihm auch von den Trends aus der Hauptstadt. Seidenblousons laufen gerade besonders gut, diesen Tipp hat er auch von ihm bekommen. Die Leute, die hier einkaufen, tun das zumeist aufgrund der ausgefallenen Stücke, die man ergattern kann – Seidenblousons eingeschlossen. Das hat Christian beobachtet und das erzählen auch die Kund*innen, die an diesem Tag den Laden besuchen. Sie sind dort, „weil man hier einzigartige Sachen bekommt; weil niemand auf der Straße wissen wird, wo du sie her hast“, erzählt eine Stammkundin. „Wenn man Second-Hand shoppen geht, dann ist es halt eher Schatzsuche“, meint eine andere.

Kund*innen gehen auf Schatzsuche im Kleiderständerwald und jagen Seidenblousons.

Kund*innen gehen auf Schatzsuche im Kleiderständerwald und jagen Seidenblousons.

Schatzsuche zwischen Kleiderständern

Aber was ist das Ziel ihrer Suche? Politur fürs Gute Gewissen? – In bester Hippie-Tradition erzählen viele Kund*innen von der Nachhaltigkeit, die ihnen am Herzen liegt. Die Kritik an den Produktionsbedingungen großer Modeketten wird immer lauter und das Bewusstsein für die Verantwortung, die die Konsument*innen mit ihren Kaufentscheidungen tragen, immer größer. Das bedenken auch viele Second-Hand-Shopper*innen bei ihrem Einkauf. Der ist außerdem noch gut für den Geldbeutel. Second-Hand ist günstig, erzählen die Kund*innen. Ihnen bietet der Laden auf jeden Fall ein tolles Preis-Leistungs-Verhältnis: Maximale Individualität zu kleinen Preisen. Das soll kein Spott sein und auch keine Konsumkritik. Die Sehnsucht nach Individualität ist nichts zum Belächeln und wenn man ihr textil Ausdruck verleiht, dann ist das nicht verwerflich.

Wer sucht, der findet … Seidenblousons

„Die visuelle Performance ersetzt den traditionellen politischen Diskurs und muss daher auch als eigenständige, relevante Ausdrucksform beschrieben und analysiert werden“[4], schreibt Diana Weiss im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit Mode und Jugendkultur. Auch die Performance in, mit und von Second-Hand-Kleidung ist relevant. Der bewusste Umgang mit dem Look, den sie erzeugt und der Bedeutung, die sie im Laufe ihrer textilen Existenz angehäuft hat ist ausdrucksstark – vielleicht sogar politisch. An diesem Tag beginnen die Ferien, viele Schüler*innen kommen vorbei und kaufen Seidenblousons – der Großhändler behält Recht und die Kund*innen freuen sich über die „ausgefallenen Stücke“, die „irgendwie cool aussehen, weil sie alt sind“. Irgendwie cool aussehen wollen ja alle und wenn dabei noch ein bisschen Individualität, ein Hauch Gesellschaftskritik und eine Prise Widerspenstigkeit drin sind, dann ist alte Seide vielleicht gar kein so schlechtes Gewand fürs junge Frühjahr.

 

[1] Vgl. Gertrude Lehnert: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis. Bielefeld 2013, S. 111ff.

[2] Die hier (mit)geteilten Beobachtungen und Zitate sind Ergebnis eines kleinen Nosing-Arounds (genauer: einer kleinen teilnehmende Beobachtung inkl. einiger kurzer Interviews) im besagten Second-Hand-Geschäft am 24. März 2016.

[3] Aus Gründen des Datenschutzes und zum Schutz der Privatsphäre werden Pseudonyme verwendet.

[4] Diana Weiss (Hg.): Cool Aussehen. Mode & Jugendkultur. Berlin 2012, hier S. 15.

Weitere verwendete Literatur:

Heike Jenß: Sixties Dress Only. Mode und Konsum in der Retro-Szene der Mods. Frankfurt am Main 2007.

Angela McRobbie: Second-Hand Dresses and the Role of the Ragmarket. In: Dies. (Hg.): Postmodernism and Popular Culture. London 1994, S. 135-154.

Sabine Trosse: Geschichten im Anzug. Der Retro-Trend im Kleidungsdesign. New York / München / Berlin / Münster 2000.