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Im Schlafanzug ins Restaurant? Nachtwäsche als Inszenierungsstrategie in einem ‚Anderen Raum‘

 

Wer ginge im Schlafanzug ins Büro? Wer setzte sich im Nachthemd in ein Restaurant?

Tradierte Regeln und Konventionen bestimmen die angemessene Wahl von Kleidung. Demnach gehört das Tragen von Schlafanzügen und Nachthemden in den höchst privaten Bereich, der Aufzug in Nachtwäsche wird schamhaft vor fremden Blicken, vor der Öffentlichkeit geschützt. Und doch gibt es Orte, an denen alles anders ist: Andere Räume, in denen derartige Konventionen verworfen und umgekehrt werden. Dort begegnen Menschen in Straßenkleidung anderen in Nachtwäsche und nichts scheint normaler zu sein als das. Sie unterhalten sich bei Kaffee und Kuchen und spazieren gemeinsam durch ein Gebäude.

Wir sind in einem Krankenhaus. Dort tragen die Patienten[1] auch tagsüber Nachtwäsche, sogar diejenigen, die nicht aus gesundheitlichen Gründen das Bett hüten müssen. Das Tragen von Nachtwäsche während des Tages ist nicht verordnet. Hier findet es einfach statt, unhinterfragt, bar jeder funktionalen Notwendigkeit. Die agency der Klinik provoziert soziale Praktiken, die außerhalb dieses Ortes unvorstellbar sind. Wir sind in einem Anderen Raum.

 

Heterotopien

Michel Foucault nennt diese Anderen Räume Heterotopien, die als tatsächlich realisierte Utopien in die Gesellschaft eingezeichnet sind. Es seien „[…] Gegenplatzierungen oder Widerlager, […], in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten oder gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“[2] Die Bildung von Heterotopien hält Foucault für eine universelle kulturelle Konstante als Auslagerungsort für Individuen, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen. Alte, Kranke oder Kriminelle werden folglich in Altersheimen, Kliniken und Gefängnissen untergebracht. Heterotopien vereinigen mehrere Räume oder Platzierungen an einem Ort, die sonst unvereinbar seien, sie seien an Zeitabschnitte gebunden und setzten „ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“[3]

 

Der Ausnahmezustand

Wie stellen sich diese Verwerfungen und Umkehrungen an diesem, von Foucault beschriebenen Anderen Ort dar? Welche Bedeutung haben diese merkwürdigen Auftritte im Schlafanzug? Was wird in der Klinik durch „Anstaltsmode“ repräsentiert und inszeniert? Das Tragen von Nachtwäsche wird hier zur symbolischen Praktik eines von der Norm abweichenden Subjekts. Schlafanzüge und Nachthemden markieren die Zugehörigkeit zum inneren System der Klinik, sie symbolisieren den Ausnahmezustand des Krankseins und grenzen ab gegen anders gekleidete Menschen wie Ärzte, Pflegepersonal und auch Besucher. Dabei wird das Tragen von Nachtwäsche als Legitimations- und Inszenierungsstrategie des Krankseins gleich zum zweifachen Repräsentations- und Statussymbol.

Während der morgendlichen Visite durch das Krankenhauspersonal repräsentieren systemimmanente Kleidungskonventionen das größtmögliche Machtgefälle. Ärztekittel trifft auf Schlafanzug heißt: Herrschaftswissen trifft auf Bedürftigkeit und Abhängigkeit. Doch genau der gleiche Schlafanzug wird nachmittags, während der Besuchszeiten, zum machtvollen Akteur einer Repräsentationsstrategie, die das Subjekt im Nachtgewand über seine Besucher erhebt. Der ganztags getragene Schlafanzug fungiert als ‚legitimierte Berufskleidung‘ für Klinikinsassen, er appelliert an die Emotionen der Besucher. Das draußen so wirksame Schamgefühl wendet sich um und der Patient hält Hof in Nachtwäsche.

 

Die Grenzen der Heterotopie – oder: wann wird’s peinlich?

Die Krankenhaus-Caféteria und die Raucherecke vor dem Klinikeingang mögen Übergangszonen sein, in denen Außenwelt und Innenwelt nebeneinander zu existieren scheinen. Bis wohin würde der Patient im Schlafanzug gehen? Begleitet er die Besucher zum kliniknahen Parkhaus? Bis zur Bushaltestelle? Die räumliche Grenze des Anderen Raums scheint gleichzeitig die Schamgrenze des Subjekts zu sein: Genau dort, wo der Patient seines Schlafanzugs gewahr wird – auch durch den Blicke der Anderen – und seinen Aufzug in Sekundenschnelle als unpassend und peinlich empfindet. Nicht nur das Terrain, auch der Klinikaufenthalt ist begrenzt, am Tag der Entlassung zieht sich der Patient um. Das Tragen von Straßenkleidung markiert die wiedererlangte Zugehörigkeit zu den Anderen, mit dem Eintritt in die Außenwelt wechselt seine Identität vom Kranken zum Genesenden, er wird wieder zum ‚normalen‘ Subjekt der Gesellschaft.

 

[1]  Nur aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird hier das generische Maskulin verwendet. Selbstverständlich sind darin alle Geschlechter eingeschlossen und gemeint.

[2] Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig 1991, S. 34-46, hier S. 39.

[3]  Vgl. Ebd., S. 44-46.