Ein Tag ohne haptische Wahrnehmung- Eine Dystopie

Wie wäre es aufzuwachen und die Fähigkeit verloren zu haben, etwas zu spüren?

7:30 Uhr: Der Wecker klingelt. Ich wache auf und fasse noch im Halbschlaf zur Seite, um mit meinem Daumenabdruck mein iPhone ruhig zu stellen. Komisch, ich spüre weder die Unebenheiten des Knopfes noch des Folienrandes drum herum. Vielleicht bin ich einfach noch nicht richtig wach.
Ich setze mich auf, strecke mich und balle dabei meine Hände zu Fäusten. Ich merke es gar nicht. Nicht einmal die sensible Berührung meiner Fingerspitzen aneinander kann ich fühlen. Meine Hände müssen eingeschlafen sein, womöglich weil ich falsch lag in der Nacht.

Ich will mich fertig machen. Benommen gehe ich ins Badezimmer in der Hoffnung, einfach nur wach werden zu müssen, um dann wieder volles Gefühl in meinen Händen zu erlangen. Beim Händewaschen drehe ich den Wasserhahn auf kalt, dann auf heiß. Dann wieder auf kalt und wieder auf heiß. Kein Unterschied, außer, dass Dampf aufsteigt, sobald ich den Hahn in den roten Bereich drehe. Auch das Handtuch fühlt sich heute gar nicht mehr so „kuschelweich“ an, wie auf der Waschmittelpackung beschrieben.
Beim Anziehen ist es schwer Stoffe zu fühlen, ich weiß zwar in diesem Fall, wie sich meine Kleidung anfühlen sollte, aber heute kann ich den Unterschied zwischen der Woll- und der Seidenstrumpfhose nur mit den Augen erkennen. Das ist sehr befremdlich und macht mir Angst.
Beim Schminken kann ich die Eigenschaften von Kosmetikprodukten nicht erfühlen. Ob weiche Wattepads, reichhaltige Creme oder harter Augenbrauenstift – ich merke nichts davon auf meinem Gesicht.

Es ist Mittag und mittlerweile bin ich sehr nervös. Ich verbrenne mich am heißen Wasserdampf, schneide mich mit dem Gemüsemesser und bemerke es erst an den roten Stellen auf meiner Haut.
Das Zubereiten eines Obstsalates verdirbt mir nun vollends den Appetit. Die empfindlichen Himbeeren zerquetsche ich, die feinen Härchen der Kiwi spüre ich nicht und nicht einmal die stachelige Ananas verursacht eine Reaktion.
Noch immer erwarte ich, dass Eines sich härter, rauer, schwerer anfühlen würde als das Andere, doch mein Gehirn kann die Signale nicht übersetzen.

Es ist Abend. Ich bin mit Freunden verabredet; die Umarmung zur Begrüßung spüre ich leider nicht. Wir spazieren zu einer Bar, ich sehe, dass der Wind weht, aber auf meiner Haut fühle ich die Brise nicht…

Wieder zu Hause angekommen, denke ich verstört darüber nach, wie es sein kann, dass unser Tastsinn als weniger bedeutsam eingestuft wird, wo doch die Haut unser größtes Sinnesorgan ist. Für mich ist an diesem Tag klargeworden, dass für mich die haptische Wahrnehmung eine sehr große Rolle spielt. Sie hilft mir, Schönes und Aufregendes aber auch Gefährliches und Unangenehmes zu erfahren. Als zukünftige Designerin ist das Spüren und Fühlen essenziell. Meine Hände sind mein wichtigstes Werkzeug und das sollte jeder Mensch so empfinden.