Haptischer Geheim-Codex: Über sowjetische Straflager-Tätowierungen und ihre Symbolik

Tätowierungen zählen wohl zu einer der ältesten Verzierungen des menschlichen Körpers. So trug schon die Gletscher-Mumie „Ötzi“ vor in etwa 5000 Jahren mit Nadeln und Einstichen unter die Haut gebrachte Zeichen auf seinem Körper (vgl.:https://de.wikipedia.org/wiki/Tätowierung). Tätowierungen sind eine Art der Körpermodifikation. Sie erlangten seit den späten 1980er Jahren in Deutschland immer mehr gesellschaftliche Akzeptanz. Diese Liberalisierung ist auch den sogenannten „Abziehtattoos“ oder „Hennatätowierungen für Kinder und Jugendliche zu verdanken. Diese sind wieder abwaschbar und werden bis heute noch auf Jahrmärkten, Kaugummi-Verpackungen o.Ä. Kindern nahe gebracht. Ebenso wichtig war auch, dass Tätowierungen ein festes Bestandteil in manchen Musikszenen wurden. Heutzutage sind sie in unserer Gesellschaft wohl kaum weg zu denken. Ob man sie selbst mag oder nicht, akzeptieren wir diese mehr oder weniger. Und umso merkwürdiger ist es für uns im 21.Jahrhundert, in dem eine „Tattoo-Convention“ die andere Tattoo-Messe jagt, dass es Länder gibt, in denen solche Bilder bis heute immer noch nicht gern gesehen sind. Unter anderem bestehen Ablehnung und Vorurteil heutzutage noch in Russland. Dort verbreitete sich der „Tattoo-Hype“ erst seit den 90er Jahren und größtenteils nur in größeren Städten wie St.Petersburg oder Moskau. Noch heute herrscht bei vielen Menschen eine stark ablehnende und skeptische Einstellung zu Tattoos. Aber warum?

 Eine wichtige Antwort liegt in der Verbindung von Tätowierungen und russischen Strafkolonien vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier kam es nach Ansicht der Gesellschaft zu einer „Geheimsprache von Gangstern“ verkörpert in einer „Tattoo-Tradition“. Trotz Verbots des Stechens in solchen Straflagern und hohen Strafandrohungen zieren dort entstandene Motive so viele Menschen, dass ganze Bildbände damit gefüllt werden können. Wohl nirgend wo sonst haben Tattoos so viele tragische Lebensläufe nach außen offenbart wie hier in Bildern, Schriften und Symbolen verewigt auf Menschen. Sie galten als ein wichtiger Teil der Identität der Insassen und dienten als stummes Kommunikationsmittel unter einander. Aus ihnen konnten andere Häftlinge heraus lesen, was der Grund für die Verurteilung war, das wievielte Mal derjenige einsitzt, wie viele Jahre er noch abbüßen muss, ob er aggressiv, ob er parteilos ist und welche Autorität er in der Gefängnishierarchie besitzt. Sie erzählen ganze Lebensläufe, wenn man sie zu lesen versteht. Manche Symbole wurden unter Zwang von den Mithäftlingen gestochen, die meisten jedoch ganz freiwillig. Oft wurden simple Symbole verwendet, die man recht leicht deuten kann. Doch was bedeuten diese vielen komplexe „Gemälde“, die bis heute schon in zahlreichen Büchern (wie das von “Fuel Design“ veröffentliche Buch „Russian Criminal Tattoo Police Files“) veröffentlicht wurden? Können wir diese Tätowierungen genauso gut deuten? – Wohl kaum. Trotzdem fasziniert dieses Sowjetphänomen viele Menschen.

Ich konnte mich mit einem ehemaligen Insassen aus Russland via Skype unterhalten und bin diesem Phänomen etwas näher gekommen. Erfahrt mit mir mehr über die Machart und Symbolik dieser Rangabzeichen in meinem spannenden Interview.

Interview:

Sehr geehrter Herr D. Erst einmal danke, dass sie sich bereit erklärt haben ein Interview zu führen. Vorab erstmal die Frage, wie darf man sich solch ein sowjetisches Straflager vorstellen? Kann man es vergleichen mit eine Strafvollzugsanstalt hier in Deutschland?

„Nein, das kann man wohl kaum miteinander vergleichen. In Deutschland hast du dein eigenen Raum, einen Fernseher, wirst noch sehr menschlich umsorgt und hast die Möglichkeit dein Leben noch irgendwie auf die Reihe zu bekommen.In der Sowjetunion waren das ganz andere Umstände. Dort haben sie dich behandelt wie Abfall, besonders wenn du neu dazu kamst. In diesen Straflagern gab es eine Hierarchie und jeder musste diese erstmal am eigenen Leibe kennenlernen.“

Wie kann man sich das vorstellen?

„Nun ja, erstmal gibt es einen großen Unterschied zwischen den Menschen, die wegen leichten Vergehen wie Taschendiebstahl und Einbruch und denen die wegen schweren Vergehen wie Mord- und Vergewaltigungsfällen einsaßen. Häftlinge, die höheren Rang besaßen sind beispielsweise die die eben schon länger einsaßen und vor allem nur diese, die leichte Vergehen abbüßen mussten. Menschen die jedoch wegen Vergewaltigungsfällen einsaßen, haben in den Straflagern ihre Rechnung dafür bezahlen müssen, indem man ihnen das selbe antat, oder sie beispielsweise mit einer Tätowierung für alle andere kennzeichnete. Diese Menschen haben für die ganze Gefängnisgesellschaft ihren Status als Mann verloren und wurden wie Dreck behandelt. Diese Lager waren sehr hart.“

Mit welchen Gerätschaften wurden denn solche Tattoos unter die Haut gebracht?

„Meistens wurde eine Mischung aus verbranntem Gummi und am besten den Urin des selbigen Häftlings benutzt oder Wasser, also ziemlich primitiv und vor allem ziemlich schmerzhaft. Tetanus, Lymphadentitis, Gangräne waren öfter die Folgen dieser unhygienischen Zustände. Trotzdem stiegen die Tattoos mit Anzahl der Verurteilungen an.“

Erzählen Sie uns bitte von den Motiven.

„Man sah öfter religiöse Motive, Madonna mit Kind, orthodoxe Kirchen oder Kloster, Kreuze. Das Motiv der Madonna mit Kind kann beispielsweise den Schutz der Mutter Gottes vor allem Schlechten bedeuten, das Hoffen auf Vergebung seiner Sünden, kann aber auch heißen, dass der Häftling schon mit jungen Jahren einsitzen musste. An der Anzahl der Kirchenkuppeln mit Kreuz kann man lesen wie oft dieser Mensch schon verurteilt wurde und wird als Zeichen der Diebe gesehen. Dann gibt es eben diese Motive, die den Status der Person widerspiegelten, die Zahl Sechs zeichnet einen Laufburschen für die hochrangigen Häftlinge aus. Öfter wurden auch Motive wie Stalin oder das Hakenkreuz gestochen, diese hatten aber keine politische Bedeutung. Stalin haben sich manche auf Herzhöhe stechen lassen, um zu zeigen wie reuelos diese handeln und töten können, oder aus Angst und dem Irrglaube, da diese glaubten, dass man bei Tötung für das Vergehen niemals durch Stalin schiessen würde. Jedoch wussten diese Menschen nicht dass der Kopfschuss das gängigste war. Das Hakenkreuz im Gesicht wurde denen gestochen die mit der Wache kooperiert haben.Totenköpfe bedeuteten meistens, dass derjenige nicht vergibt und willig ist zu töten. Sterne stehen immer für die Elite und die „Diebe des Gesetzes“.“

Was bedeutet „Dieb des Gesetzes“?

„Das waren die Häftlinge die zur Elite gehörten, die ranghöchsten unter den Häftlingen. Verurteilte Diebe zählten zu den angesehensten Häftlingen und entwickelten sich zu den kriminellen Autoritäten.Ihr Wort war unter allen anderen Häftlingen Gesetz und ohne sie gab es keine Ordnung. Diese Sterne durften auch nur sie tragen, wenn dieses Motiv von einem anderen Häftling getragen wurde, war dies sein Todesurteil.“

Erzählen Sie uns bitte mehr über die verschiedenen Motive und deren Symbolik.

„Da gibt es so viele, aber ich versuche Ihnen ein groben Überblick zu verschaffen. Der tätowierte Wolf wird als Einzelgänger gesehen und bedeutet zugleich dass er Taten gegen sich mit dem Tod bestraft, eben ein konfliktreicher Mensch ist. Wandelbarkeit oder Unzurechnungsfähigkeit schrieb man diesem Menschen auch zu. Häftlinge mit tätowierten Katzen hatten immer etwas mit Wohnungseinbrüchen zutun, diese Tätowierungen ließen sich aber nur junge naive Menschen stechen. Die Kombination mit einem Dietrich bedeutete dass kein Schloss unbezwingbar für denjenigen war. Adler bedeuten Ausbruch aus dem Lager, dies was sehr schwer. Tätowierte Bären schmückten auch einen Elite-Angehörigen, da dieser Mensch keinerlei Probleme hatte professionelle Safe-Schlösser aufzubekommen. Öfter bekam man auch tätowierte Augen zu sehen, diese bedeuteten dass derjenige alles weiß, sieht und raus bekommt. Diese Menschen waren als eine Art Agent angesehen, falls jemand Informationen über einen anderen wollte, kontaktierte man diese Menschen. Das waren jetzt ziemlich simple Motive, über die ich berichtet habe, natürlich gibt es ganze Gemälde auf Menschenhaut die viel komplexer sind, diese erzählen ganze Lebensläufe. Meistens sind es aber Zusammensetzungen zwischen diesen Motiven die ganze Rücken-, oder Bauchpartien ausmalen.“

Können Sie uns vielleicht ein Beispiel nennen?

„Beispielsweise kann ich mich an eine riesige Tätowierung erinnern, die einen Menschen in gestreifter Kleidung zeigte, kniend vor dem jüngsten Gericht. Welches den Sträfling wohl selbst abbilden sollte. Auf der rechten Seite sah man einen schreibenden Engel an einem Tisch sitzend und auf der linken den Sensenmann, der ebenfalls schrieb. Neben dem Sträfling sah man noch einen kleineren Engel, der ihn ansah. Hinter dem Gericht war eine Orthodoxe Kirche zu sehen, diese hatte mehrere Kuppeln mit Kreuzen. Eines der eindrucksvollsten Tätowierungen, die ich gesehen habe, sehr akkurat. Wahrscheinlich war der Mensch schuldbewusst und gläubig. Auf seinen Oberarmen war aber auch der Wolf zu erkennen und noch andere Tattoos.  So gibt es zahlreiche andere Motive, die miteinander verstrickt sind und dadurch wandelbare Bedeutungen haben.“

Danke für diese grobe Einführung der einzelnen Motive. Sie selbst tragen auch ein paar Tattoos sagten Sie vorab. Wie gehen Sie heute mit dieser visuellen Sprache um? Haben Sie sich jemals überlegt diese entfernen zu lassen?

„Vorab besitze ich selbst keiner dieser Motive, die mich zu etwas verurteilen, meine Motive haben positive Bedeutungen und ich wollte nie irgendeinen Rang damit nach außen tragen oder einen Zusammenhang mit dem Lager schaffen. Ich verdecke sie trotz allem meistens, nicht weil sie mir peinlich sind, sondern einfach, wie es die meisten Menschen im Beruf machen, dies versteht man leider besonders hier in Russland immer noch ziemlich falsch. Aber ich selbst wollte sie nie entfernen lassen, sie sind eben Teil von meiner Geschichte und dadurch Teil von mir geworden.“

Vielen lieben Dank Herr D. Für diesen spannenden, aber auch privaten Einblick in diese trotz allem sehr faszinierende Tattoo-Kultur.

 

Quellen:

-Wikipedia (2017): „Tätowierungen“. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Tätowierung [Stand: 24.03.2017]

-Lokshin, Pavel (2015): „Geheimsprache unter Gangstern“. URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/tattoos-damon-murray-dokumentiert-russische-gefaengniskultur-a-1011551.html  [Stand: 23.03.2017]

-Interview mit einem ehemaligen Insassen eines sowjetischen Straflagers  [Stand: 25.03.2017]