KÖRPER MIT GEWICHT #1

Autobiografisches

Anfang der 2000er, als alle Mädchen bauchfreie Tops und Hüfthosen trugen, war ich ein pummliger Teenager. Mangels passender Hüfthosen trug ich den „Grunch-Look“: Spitzennachthemden meiner Oma, zerrissene Jeans und sehr viel schwarzen Kajal. Auf einem Konzert, bei dem ich ein besonders durchsichtiges Nachthemd trug, sprach mich ein Typ mit Lederjacke an. Er lobte mich für meinen Style mit den Worten: „Ich finde es cool, dass du dich bei deiner Figur traust so was anzuziehen – voll mutig“.

Dress For The Body You Have

Fünfzehn Jahre später, nachdem Michel Foucault und Judith Butler mir viel über die soziale Konstruktion (geschlechtlicher) Körper beigebracht haben, rief ein Posting auf meiner Facebookseite dieses Erlebnis wieder in mein Gedächtnis:

Screenshot eines Facebookpostings

Screenshot eines Facebookpostings

Das Schild wies mich deutlich darauf hin, mich gemäß des Körpers zu kleiden, den ich habe und nicht gemäß des Körpers, den ich gerne hätte, den pummeligen Körper, den ich einst in durchsichtige Nachthemden gesteckt hatte. Bevor ich weiter nachdenken konnte, hatte schon jemand mit einem weiteren Bild in den Kommentaren geantwortet:

Screenshot der Kommentarfunktion

Hatten ich und mein Nachthemd einst wie diese hervorquellende Melone ausgesehen und wenn, wäre es schlimm? Gibt es ein unausgesprochenes Gesetzt zur Verhüllung sichtbaren Körperfetts und wieso ist Fett überhaupt ein ästhetisches, gar gesellschaftliches Problem? Dieser ausschnitthafte Facebook-Diskurs darüber, wie Dicke (Frauen) sich kleiden sollten, führt zu Fragen nach der sozio-kulturellen Konstruktion dicker (Frauen-)Körper und deren angemessener (oder nicht angemessener) Bekleidung.

Diskursive Körper

Zu Beginn dieser Überlegungen steht die Prämisse, dass Körperbilder einem stetigen Wandel unterliegen und der aktuelle Diskurs über Körper ein historisch gewachsener ist. Davon ausgehend stellt sich die Frage, warum „Normal“- und „Übergewicht“ heute Begriffe sind, mit denen wir unsere Körper im Alltag begreifen und wie es historisch zu einer gesellschaftlichen Problematisierung „übergewichtiger“ Körper und deren Verhältnis zu Mode kam.

Übergewicht und Körperdeutung im 19. Und 20. Jahrhundert

Nach Uwe Spiekermann hängt die Einteilung unserer Körper in bestimmte („gesunde“ und „ungesunde“) Gewichtsklassen stark mit materialistischen Deutungen und Bewertungen des Körpers, die dem späten 19. Jahrhundert entstammen und bis heute die Debatten um Körperwahrnehmung prägen, zusammen. Er beschreibt, wie mit Erlangen der naturwissenschaftlichen Deutungsmacht über Körper im 19. Jahrhundert, quantitative Vorstellungen von gesunden und kranken, normalen und unnormalen Körpern Einzug in die Diskurse um Körperlichkeit hielten und so als Referenzsysteme verwissenschaftlicher Körper dienten. Analogien vom Mensch als Maschine, der eine gewisse Menge Kalorien verbraucht und einen Stoffwechsel mit Grundbedarf hat, reduzierten den Körper auf seine Materialität, wie seine Funktionalität, also der Frage nach „gesunden“, leistungsfähigen oder „kranken“ Körpern (Spiekermann 2008: 43). Der Körper wurde über Maße, Statistiken und Körperformeln normiert, quantitative Vorstellungen von „normalen“ und „unnormalen“ Körpern führten zur Idee eines menschlichen „Durchschnittskörpers“, gar der Idee eines „Volkskörpers“ dessen Individuen als Bruchteile seiner Gattung betrachtet werden könnten (Spiekermann 2008: 44). Diese Ideen vom Normalkörper, so Spiekermann, gingen davon aus, „dass Längen- und Gewichtsproportionen direkte Indikatoren des Gesundheits- und Ernährungszustandes seien – eine Fiktion der wir bis heute anhängen“ (Spiekermann 2008: 45). Die so hergestellten Körpernormen wurden schnell zu Körperidealen, die Körper, unter der Zuhilfenahme eines naturwissenschaftlichen Körpermodells, hierarchisierten. Dabei wurden vielfältige, nicht naturwissenschaftliche Dimensionen des Körpers ausgegrenzt. Bereits im späten 18. Jahrhundert lassen sich geschlechtlich divergierende Körperanforderungen erkennen: Männer sollten kräftig und leistungsfähig, Frauen jung, attraktiv und schlank sein. Historisch betrachtet sein es insbesondere Frauen und ihre Körper gewesen, an denen medizinische, moralische und politische Diskurse über Ideale Maße ausgetragen wurden (und bis heute werden). (Villa/Zimmermann: 2008: 172). Spiekermann zeigt auf, wie sich Körperideale und deren gesellschaftliche Bewertung in den letzten 200 Jahren immer wieder veränderten: Von kräftigen Wohlstandsleibern über dürre Lebensreformer, erste Diätpräparate, die Akzeptanz einer wiedergewonnenen Antike mit Statuen gleichen Körpern, bis hin zur Nacktkulturbewegung, bot das lange 19. Jahrhundert vielfach heterogene Körperideale. Selbst in den Zwischenkriegsjahren, in denen schlanke Frauen in schmalen Kostümen die urbane Kultur prägten, habe es aufgrund der vorherrschenden Unterernährung kein dominantes Schlankheitsideal gegeben (Spiekermann 2008: 50). Auch während der NS-Zeit wurden figurbetonte, kräftige Körper als Ideal propagiert. Diese Körperideale fülliger Frauen und kräftiger, muskulöser Männer blieben auch in den Nachkriegsjahren, so Spiekermann, bis in die frühen 1960er-Jahre, bestehen. Der Bruch erfolgte „nicht zuletzt mit der Sexualisierung und Liberalisierung seit den späten 1960er-Jahren, die eben nicht mehr neuerlich an ein antikes Ideal anknüpfte“ (Spiekermann 2008: 51). Nach Spiekermann sei unsere Bilderwelt bis heute von diesen deutlich schlankeren Körpern geprägt, die sich unter anderem durch die sog. Gesundheitswelle um 1970 als Ideale durchsetzten. Der Diätboom seit den 1990er-Jahren mit den Idealkörpern dürrer Supermodels mündete in den bis heute ökonomisch relevanten Schlankheits- Lebensmittel- und Fitnessmärkten (Spiekermann 2008: 53).


Literaturverzeichnis

Spiekermann, Uwe: Übergewicht und Körperdeutung im 20. Jahrhundert – Eine gewichtswissenschaftliche Rückfrage. In: Schmidt-Semisch, Henning/Schorb, Friedrich (Hrsg.): Kreuzzug gegen Fette. Sozialwissenschaftliche Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Übergewicht und Adipositas. Wiesbaden 2008, S. 35-55.

Villa, Paula-Irene/Zimmermann, Katharina: Fitte Frauen – Dicke Monster? Empirische Exploration zu einem Diskurs von Gewicht.  In: Schmidt-Semisch, Henning/Schorb, Friedrich (Hrsg.): Kreuzzug gegen Fette. Sozialwissenschaftliche Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Übergewicht und Adipositas. Wiesbaden 2008, S. 171-190.