Der kleine Mann

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Zu dick, zu dünn, zu kurz, zu lang – das Körperbild eines Menschen wird in unserer Gesellschaft regelmäßig taxiert und entlang unsichtbarer Normen beurteilt. Während man den Körperumfang durch Ernährung und eiserne Disziplin in der Regel beeinflussen kann, lässt sich an der Größe wenig ändern. Dies trifft vor allem den „kleinen Mann“, der mit Spott und Schadenfreude zu tun bekommt aufgrund eines nicht beeinflussbaren Merkmals.

Ein Dating-Portal im Netz hat eine Umfrage publiziert, in der es heißt, dass Frauen Männer um die 1,80 m anziehend finden, kleine Männer (1,70 m und kleiner) aber eher unattraktiv. Im Forum dieser Partnervermittlung zu dem Thema melden sich hauptsächlich Frauen zu Wort. Der allgemeine Tenor lautet: Klein-sein als Mann ist ein Defizit.

Einträge in Foren unter dem Deckmantel der Anonymität sind natürlich alles andere als repräsentativ, dennoch verweisen sie auf einen Diskurs, der suggerieren möchte: Wenn du als Mann klein bist, überträgt sich das auf deinen Charakter, schau, dass du dieses Manko kompensierst. Die diskriminierende Absicht macht hier keinerlei Anstalten, sich zu verbergen, und von Diskriminierung muss tatsächlich gesprochen werden, weil die Körpergröße, mehr noch als die Hautfarbe oder die Tatsache, Frau zu sein, ein unveränderliches Merkmal darstellt. Aber nicht nur auf Partnerbörsen wird Maß genommen, auch staatliche Einrichtungen wie Polizei und Militär schließen Männer mit bestimmten Körpergrößen aus.

Der Psychologe Alfred Adler prägte auf den kleinen Mann bezogen den Ausdruck Napoleon-Komplex, der sich auf das Verhalten eines Menschen bezieht, welcher seine kleine Körpergröße durch sichtbaren Erfolg und Statussymbole zu kompensieren versucht. Napoleon, der siegreiche Feldherr, Franzosenkaiser und ewige Plagegeist etlicher europäischer Länder, maß 1,68 m, eine Körpergröße, die damals sogar leicht über dem Durchschnitt lag. Aus heutiger Sicht gilt er als klein. Mit der Körpergröße verändert sich die gesellschaftliche Norm und deren Werturteil.

Belegt ist, dass sich die Körpergröße im Laufe der Zeit verändert, für die Bundesrepublik ermitteln dies die Hohenstein Institute1 anhand von Reihenmessungen. Die letzte wurde zwischen 2007 und 2008 durchgeführt und hat ergeben, dass sich die Körperproportionen der Bundesbürger innerhalb eines Jahrzehnts deutlich verändert haben. Frauen sind im Durchschnitt 1,0 cm größer geworden, Männer 3,2 cm.2 Die Reihenmessung wird durch die Automobil- und Kleidungsindustrie finanziell unterstützt, denn anhand dieser Werte wird die sog. Hohensteiner Maßtabelle angefertigt, die die Konfektionsgrößen festlegt.

Wenn es darum geht, die Größe mit Hilfe der Mode zu optimieren, sind kleine Männer weiterhin im Nachteil. Für kleine Frauen gibt es im Netz zahlreiche Styling-Tips. Kleide dich Ton in Ton. Trage kurze Röcke. Hosen und Röcke sollten grundsätzlich hoch geschnitten sein. Trage Schuhe mit Absätzen. Vermeide Ketten mit großen Anhängern. Hinzu kommt, dass kleine Körpermaße bei Frauen selten problematisch sind (eher große). Der tatsächlich geforderten Körpergröße lässt sich durch solche Tricks und mit Hilfe der Mode nicht so recht beikommen.

Nicolas Sarkozy und Tom Cruise tragen, so munkelt man, Spezialschuhe, die 5-10 cm strecken. Kürzlich trug der republikanische US-Politiker Marco Rubio (1,78) Cowboystiefel mit 5 cm Absätzen, umgehend wurde er von Donald Trump (1,88 m) bezichtigt, Minderwertigkeitskomplexe aufgrund seiner Größe zu haben.

Die Mode ist für den kleinen Mann also nicht wirklich hilfreich beim Versuch der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen. Hier treffen gleich zwei Hindernisse aufeinander, die Körpernorm, die sich nicht einhalten lässt, und eine relativ starre Kleidernorm, die z.B. nicht zulässt, dass kleine Männer offen hohe Absätze tragen. Laut der oben genannten Dating-Plattform bleibt dem kleinen Mann nur eine Möglichkeit, will er in der Gesellschaft bestehen: Er muss durch Charaktereigenschaften und Status punkten.

1http://www.hohenstein.de/de/home/home.xhtml

2http://hohenstein.de/media/veroeffentlichungen/Size_GERMANY.pdf