Die Qual der Zahl – Was Konfektionsmode mit sich bringt

Eigentlich soll sie das Kleiderkaufen erleichtern, die Konfektionsgröße. Gefällt mir ein Teil, muss ich nur noch meine Größe auswählen und das Ding wird passen. Soweit zur Theorie. In der Praxis sieht das anders aus: Eine Studie eines Online-Portals besagt, dass 93% der Frauen in Deutschland mehrere Größen im Schrank haben.[1] In die üblichen Bekleidungsgrößen von 36 bis 42 passen angeblich nur 21%.[2]

SuperSkinny

Ein Grund dafür: Die Textil-Hersteller in Europa können die Maße für eine Größe selbst definieren. Ergebnisse aus regelmäßig durchgeführten Reihenmessungen geben zwar Bereiche für z.B. Brust-, Taillen- und Hüftumfang vor. Dies sind aber keine verbindlichen Normen. So können die Kleider von Marke zu Marke sehr unterschiedlich ausfallen. Dazu kommt, dass dieses Größensystem international nicht einheitlich ist: In Italien ist eine deutsche 36 eine 40, in Frankreich eine 38.

Diese Erfahrung macht auch eine junge Frau in einem Magazin-Beitrag.[3] Bei dem vorgestellten Experiment probiert sie Oberteile und Hosen aus verschiedenen Geschäften an, jedes Mal in Größe 38. Die Mode-Expertin legt das Maßband an, um zu schauen, um welche Größe es sich laut Reihenmessung-Definition tatsächlich handelt. Das Resultat: Die Kleider sind in den meisten Fällen zu eng und entsprechen laut Zentimetermaßen nicht den Angaben einer Größe 38. Ärgerlich, wenn man sich darauf verlässt, aber im Grunde leicht lösbar, indem die junge Frau es in Zukunft tendenziell mit einer Größe größer probiert.

Ist doch nur eine Zahl! – oder?

Die Rhetorik des Magazin-Beitrags deutet etwas anderes an: „Jetzt kommt der Albtraum jeder Frau – die Hose geht gar nicht zu“ und „ausgerechnet eine Hose in Größe 42 passt Marie am besten“, ist aus dem Off zu hören. „Jetzt sei bitte nicht frustriert“, kommentiert das die Mode-Expertin.

Welche Größe passt? Und wie fühlt sich das an?

Nicht nur: „Welche Größe passt?“, sondern: „Wie fühle ich mich damit?“

Marie passt nicht in die Hose und ihr erster Gedanke ist: „Was stimmt nicht mit meinem Körper?“ Die Konfektionsgröße dient damit nicht nur der Orientierung im Laden, sondern ist ein Mittel zur Selbsteinschätzung und Selbstvergewisserung über Körperformen und -proportionen. Denn es wird von einem Standard ausgegangen. „Individualität und Unverwechselbarkeit der Körperformen werden als Abweichung und nicht als Bereicherung gesehen“, erklärt die Soziologin Waltraud Posch in ihrem Buch „Körper machen Leute. Der Kult um die Schönheit.“ [4] Woher kommt dieser Gedanke: Von einem bestimmten Schönheitsideal, von dem sich die Praxis des Einheitslooks abgeleitet hat? Oder hat sich das Ideal aus den Praxen entwickelt?

Einheitliche Konfektionsgrößen gibt es in Deutschland seit 1900, als von Einzelfertigung auf industrielle Produktion umgestellt wurde. Trotzdem fand ein Schneider damals Beschäftigung, denn Anpassungen galten als völlig normal. Seit 1957 werden in Deutschland regelmäßig Reihenmessungen von den Hohensteiner Instituten durchgeführt. Die Durchschnittswerte sollen Anhaltspunkte dafür geben, wie Kleidung für die Menschen in Deutschland geschnitten sein sollte, damit sie möglichst vielen passt. Genau das gleiche macht auch das Deutsche Institut für Normierung, um die Höhen von Türrahmen, Schreibtischen und Notfallschaltern für möglichst viele Menschen möglichst angenehm zu gestalten. Auch hier ist nicht garantiert, dass dies gelingt, schließlich handelt es sich nur um statistische Werte. Doch in diesen Fällen würde man seinen Körper bei Abweichungen viel weniger in Zweifel ziehen als bei der Kleidung. Das Einordnen in Konfektionsgrößen umfasst aber mehr als eine Zahl, speziell für Frauen. Kleinere Größen sind positiver konnotiert als große Größen. Eva Hillers, Dozentin für Textil- und Bekleidungstechnik an der Hochschule Niederrhein erklärt, dass viele Unternehmen ihre Ware grundsätzlich kleiner auszeichnen, damit der Käufer sich „besser fühle“, „weil da eine kleinere Größe draufsteht“.[5]

Schlanksein – sexy oder ungesund?

In diesen Praktiken verdeutlicht sich das Schlankheitsideal der heutigen Zeit. Dieses hat sich aber ebenfalls erst mit der vorletzten Jahrhundertwende ergeben. Davor galt deutliche Schlankheit als kränklich.[6] In den 1960er-Jahren wurde das Schlankheitsideal durch das Aufkommen von Diät-Industrie und Massenmedien forciert. Einen Höhepunkt fand das bis jetzt in den 2000ern mit dem Hollywood-Trend „Size Zero“ – eine Marke, die bald für sich selbst stand und nicht mehr hinterfragt wurde. Übersetzt ins Deutsche bedeutet sie Größe 32 – eine Größe, die normalerweise von etwa 12-jährigen Mädchen getragen wird, nicht aber von erwachsenen Frauen. Trotzdem war „Size Zero“ damals Ausdruck dafür, es zur perfekten Figur geschafft zu haben.

Dabei stand die Größe für sich selbst ohne Relationen, etwa, wie groß diejenige Person war oder wie alt. Denn der Körper verändert sich automatisch im Laufe eines Lebens, sodass Änderungen bei der Konfektionsgröße nicht nur wahrscheinlich, sondern auch gesund sind. Diese Dynamiken werden bei solchen „Zahlendebatten“ jedoch komplett ausgeblendet. Glück und Wohlbefinden werden von bestimmten Maßen abhängig gemacht. Doch dabei läuft man Gefahr, auf einen Etikettenschwindel hereinzufallen.

[1] Myriam Siegert: Der Frust mit der Klamotte. In: Abendzeitung München, 01.03.2013 15:49 Uhr. http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.konfektionsgroessen-der-frust-mit-der-klamotte.a9792bd1-7323-4c9c-b96c-1a93c11c1622.html Zugriff: 11.01.2016 10:28 Uhr.

[2] Quarks & Co: Mensch nach Maß? Von DIN-Normen und Körpergrößen, S.15. http://www.wdr.de/tv/applications/fernsehen/wissen/quarks/pdf/Q_DIN.pdf Zugriff: 29.02.2016 13:33 Uhr.

[3] http://web.de/magazine/geld-karriere/echte-kleidergroessen-30945640

[4] Waltraud Posch: Körper machen Leute. Der Kult um die Schönheit. Frankfurt a.M. 1999, S.74.

[5]Nicole Scherschun: Europa im Größenwahn.09.03.2009 http://www.dw.com/de/europa-im-gr%C3%B6%C3%9Fenwahn/a-4083395 Zugriff:11.01.2016 11:17 Uhr.

[6] Vgl. Posch 1999, S.138-144.