Haptik statt Optik

Haptik statt Optik

Die Formen der Taktilität von Living History in Ausstellungen und Freilichtmuseen gehen über die Darstellung historischer Lebenswelten und das Ausprobieren von Gebrauchsgegenständen hinaus. Eine besondere Rolle nimmt die Kleidung in der Geschichtsvermittlung ein. Zwar sind uns haptische Erlebnisse des alltäglichen Umgangs mit Kleidung vertraut, jedoch erweisen sie sich als sprachlich schwierig explizierbar. So zeigt sich durch taktile Wahrnehmung am eigenen Körper, wie Kleidung durch Bewegungen verlebendigt wird. Die Besucher der Ausstellungen versetzen sich in eine historische Lebenswelt. Um die Vergangenheit zu interpretieren, wird beispielsweise im Schlossmuseum Ludwigsburg bei einigen Führungen der Fokus auf die Haptik der Kostüme gelegt.

Kostümierte Kinder während einer Führung zum Thema Barock im Schloss Ludwigsburg. Quelle: www.schloss-ludwigsburg.de/besucherinformation/fuehrungen-veranstaltungen/abenteuer-schloss/

Bild 1: Kinder während einer Führung zum Thema Barock im Schloss Ludwigsburg. Quelle: www.schloss-ludwigsburg.de/besucherinformation/fuehrungen-veranstaltungen/abenteuer-schloss/

Die Haptik der Kostüme

Dabei haben beispielsweise Kinder die Möglichkeit, sich während einer Führung im Schloss Ludwigsburg zum Thema Barock zu verkleiden. Es wird so versucht dem jungen Publikum, mithilfe der taktilen Wahrnehmung, das gehobene höfische Leben nahezubringen. Durch die Interaktion mit kostümierten Besuchern werden die passiven Empfänger vorgefilteter Informationen, wie etwa durch Texttafeln, in aktive Gestalter des Vermittlungsprozesses verwandelt. Weiter verstärkt wird die Wirkung von Living History, indem sie neben intellektuellen Stimuli auch immer Reize für die Sinne bereithält und diese ganz leicht mit Emotionen verbinden kann: Hierbei spielt die Haptik der Kostüme eine bereichernde Rolle. Die Konstruktion der Wirklichkeit geschieht in der Einheit von Körper, Geist und Gefühl. Die Besucher spüren die Beschaffenheit des Materials. So tauchen die Teilnehmer detaillierter in eine andere Lebenswelt, können beispielsweise die Steifheit der Materialien historischer Kleidungsstile, welche unter Umständen die Bewegung des eigenen Körpers einzuschränken vermögen, erfahren. Die Besucher gestalten ihren Körper und sind gleichzeitig ihre eigenen Zuschauer: anziehen, tragen, taktil erfahren. Durch das Zusammenspiel von Emotion, Kognition und Körperlichkeit entsteht eine einzigartige Erlebniswelt. Es entsteht eine holistische Lernerfahrung durch das Tragen der Kleidung. ‚Costumed interpreters‘, also kostümierte Teilnehmer, sind so befähigt zur kritischen Reflexion und Dekonstruktion von Geschichtsbildern. [Sturm, Andreas: Quo vadis Living History? Auf der Suche nach dem richtigen Umgang mit Geschichte als Erlebniswelt. In: Vermittlung von Vergangenheit. Gelebte Geschichte als Dialog von Wissenschaft, Darstellung und Rezeption, Weinstadt 2011, S. 41-54, hier S. 42] Insofern soll Living History auch Ausschnitte vergangener Lebenswelten am eigenen Leib und ohne den Zwang der Nützlichkeit begreifbar machen. Die Kleidung wird verlebendigt, in Bewegung gebracht und ins Performative und Theatralische übersetzt. Beispielsweise können die Besucher im dänischen Freilichtmuseum Lyngby in einen vorindustriellen Alltag eintauchen.

Bild 2: Screenshot aus dem Film über Living History im dänischen Frelichtmuseum in Lyngby Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=1l8POyTlxMo

Bild 2: Screenshot aus dem Film über Living History im dänischen Freilichtmuseum in Lyngby.
Quelle: www.youtube.com/watch?v=1l8POyTlxMo

Die Dreidimensionalität der Kleidung erfühlen

hier spielt es keine Rolle, dass die Kleidung nur eine Nachbildung einer „Tracht“ oder einer Arbeitsbekleidung aus dem Zeitalter der Vorindustrialisierung ist. In den meisten Fällen werden keine Originalkostüme verwendet, da es aus konservatorischen Gründen nicht möglich ist. Haptik statt Optik gilt für die Kleidungsstücke, um die ‚Dreidimensionalität und die Beweglichkeit des Materials zu verstehen‘. [Weise, Katja: Try me on – Zur Inszenierung modischer Körper in Ausstellungen. In: Gertrud Lehnert (Hg.): Räume der Mode, München 2012, S.183-199, hier S. 184.] Die bekleideten Körper lassen die Dingbedeutsamkeit und spezifische Materialität auf der Haut selbst wahrnehmbar werden.

Die Kleidungsstücke in Bewegung bringen

Zwar können Kleidungsstücke auch an unbeweglichen Kleiderständern gezeigt werden. Allerdings sind beispielsweise Schneiderpuppen leblose Figuren, an denen sich keine Bewegung zeigen lässt. Dem Leinenstoff wird erst durch den Träger Leben eingehaucht. Je nach Besucher sitzt das Kleidungsstück anders. Die Kleider ‚selbst sind nur leere Hüllen‘. [Weise 2012, S.191.] Die Berührung mit den Kleidungsstücken wird eine andere Verbindung hergestellt: Die Zartheit des Stoffes oder der Stoff als solcher, welcher sich durch Bewegung in Falten legt, sowie durch einen Luftzug eine Veränderung auf der Haut des Trägers hervorruft. Schnürungen und Verzierungen zum Beispiel verändern die Körpersprache der Träger_in. Die Wahrnehmung des Stoffes  und des Schnittes auf der Haut und am Körper lässt sich durch das Tragen verdeutlichen und erleben und macht ein Eintauchen in die Geschichte mit verschiedenen Sinnen möglich. Es entsteht ein individuelles Erleben von Geschichte durch Taktilität und Haptik.

 

Literaturverzeichnis:

  • Sturm, Andreas: Quo vadis Living History? Auf der Suche nach dem richtigen Umgang mit Geschichte als Erlebniswelt. In: Vermittlung von Vergangenheit. Gelebte Geschichte als Dialog von Wissenschaft, Darstellung und Rezeption, Weinstadt 2011, S. 41-54.
  • Weise, Katja: Try me on – Zur Inszenierung modischer Körper in Ausstellungen. In:  Gertrud Lehnert (Hg.): Räume der Mode, München 2012, S.183-199.

Elektronische Bilderquellen: