Bekleidet und doch nackt – Der erzwungene Verzicht auf Unterwäsche im Krankenhaus

Als „Nicht-Ort“ hat der französische Anthropologe Marc Augé das Krankenhaus in seinem Werk „Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit“ aus dem Jahr 1994 bezeichnet. Krankenhäuser sind für ihn Orte, an denen sich Menschen nur für begrenzte Zeit und nur zu bestimmten Zwecken aufhalten – und an denen deshalb auch ganz bestimmte Strukturen herrschen.

So auch beim Thema Bekleidung. Während es für viele Menschen wohl nahezu unvorstellbar ist, mehrere Tage komplett auf Unterwäsche zu verzichten und nur ein dünnes Hemd zu tragen, das zu allem Überfluss nur durch eine kleine Schleife im Nacken befestigt wird, wird genau dies für Patienten im Krankenhaus zu einer erzwungenen Selbstverständlichkeit.

Doch wie gehen die Menschen mit dieser neuen oktroyierten Form des Bekleidet-Seins um?

Von mir durchgeführte Interviews weiblicher Patientinnen im Alter von 22 bis 32 haben ergeben: Scham ist ein vorherrschendes Gefühl. Sie wurde vor allem in dem Moment verspürt, wenn sich die Patientin ausziehen musste und ihr Krankenhaushemd bekam. Ebenso intensiv war das Gefühl aber auch, wenn die Frauen Besuch bekamen und sich diesem nur leicht bekleidet zeigten. Im Umgang mit dem Krankenhauspersonal verschwand das Schamgefühl jedoch weitestgehend, da es für die Angestellten Teil ihres beruflichen Alltags ist, derart (nicht-) bekleideten Menschen zu begegnen.

Ganz anders verhielten sich jedoch die Besucher der Patientinnen. „Ich habe schon bemerkt, wie die Leute geschaut haben. Aber ich kann das auch verstehen. Der Blick wandert automatisch, weil man so selten jemanden ohne Unterwäsche sieht“, berichtet eine Frau, die für drei Tage auf ihre Unterwäsche verzichten musste. Eine andere erzählt, dass ihre Familie viele Witze und neckende Kommentare darüber gemacht hat, dass die Patientin keine Unterwäsche trug. Vor allem vor der Operation diente dies allerdings wohl auch der Ablenkung. Denn natürlich liegt das Hauptaugenmerk in den Augenblicken vor einem wichtigen Eingriff nicht auf der Zusammensetzung der eigenen Kleidung.

Anders verhielt sich dies jedoch nach der Operation, als sich die Patientin wieder zunehmend auf ihre körperliche Erscheinung konzentrieren konnte. Doch warum verspürten die Frauen Scham, obwohl sie doch nach wie vor vollständig – wenn auch nur mit einem dünnen Hemd – bekleidet und so vor Blicken geschützt waren?

Ihnen allen war sehr bewusst, dass sie keine Form von Unterwäsche getragen haben. Da dies sonst in ihrem Alltag nicht vorkommt, waren sie zusätzlich zu all dem Stress, den eine Operation mit sich bringt, auch den Belastungen einer fremden Situation ausgesetzt. Sie hatten außerdem den Eindruck, dass sich auch ihre Umwelt durchaus darüber bewusst war, dass bestimmte intime Körperstellen nicht wie sonst extra bedeckt waren.

Hierin muss die Ursache der Scham liegen: Das Selbstverständnis, dass die Patientinnen von sich haben, wird gestört. Ihnen wird klar, dass sie sich anders verhalten als gewöhnlich; dass sie etwas tun, was sonst nicht für sie in Frage käme. Hinzu kommt die Anwesenheit Dritter, die dieses nicht-gewöhnliche Verhalten bemerken und beurteilen könnten. Außerdem überkommt sie die Scham, weil sie machtlos sind. Nicht aus freien Stücken verzichten sie auf Unterwäsche, sondern weil sie es müssen. Es ist Vorschrift. Und diese Bevormundung ist ihnen unangenehm.

Gleichzeitig war dieses Fehlen von Unterwäsche für eine Patientin aber auch ein deutliches Zeichen dafür, dass sie krank war. Sie lag schon mehrmals wegen einer Operation im Krankenhaus und war dann immer nur mit jenem Hemd bekleidet.

Alle Interviewpartnerinnen sagten außerdem, sie fühlten sich auf die ein- oder andereweise nackt, obwohl sie wussten, dass sie etwas anhatten. Doch die Intensität der Fremdheit der Situation passte nicht in ihr Selbstbild und wurde deshalb als eine Art Nacktheit empfunden.

Ausschlaggebend hierfür war sicher auch, dass das Gefühl des Stoffes auf der Haut ein anderes war. Es war eine Schicht Kleidung weniger als sonst vorhanden. Zwei Kleidungsstücke – BH und Slip – fehlten.