Oben ohne – Warum Frauen gerne auf den BH verzichten und es doch nicht zugeben

Er zwickt, drückt und verrutscht, passt nicht zum rückenfreien Kleid oder ist sitzt schlecht. Ein BH kann wirklich ein unbequemes, unliebsames Kleidungsstück sein. Da liegt es nahe, dass frau ab und an ganz gerne auf ihn verzichtet. So auch die jungen Frauen Anfang 20, mit denen ich sprach. Alle gaben an, in bestimmten Situationen auf den BH zu verzichten: zuhause, bei kleineren Erledigungen, wenn sie krank sind oder aber auch nachts beim Feiern.

Das Nicht-Tragen ist also ganz selbstverständlich? Bei Weitem nicht! Denn auch wenn diese Frage immer bejaht wurde, wird doch sofort ein interessanter Konflikt deutlich: Es soll bloß niemand merken, dass ein Kleidungsstück fehlt!

Auch wenn die Frauen allesamt sagen, für sie sei es normal mehrmals in der Woche keinen BH zu tragen, versuchen sie diesen Umstand auf kreative Art und Weise zu verdecken. Weite T-Shirts, verschränkte Arme oder ein zusätzliches Kleidungsstück sollen verheimlichen, dass etwas fehlt und so Schamgefühle vermeiden.

Doch warum diese Mühe, wenn es eigentlich doch so normal ist? Wenn sich die Frauen nach eigenen Angaben ohne BH sogar „ungezogener und freier“ – beides durchaus positive Zuschreibungen – fühlen?

Unter solch einem rückenfreien Kleid macht  sich ein BH schlecht.

Unter solch einem rückenfreien Kleid macht sich ein BH schlecht.

Kleidung und Bekleidet-Sein ist eine zentrale Kategorie von Alltagskultur. Kultur wiederum wird verstanden als ein Komplex von Sinnsystemen und symbolischen Ordnungen, mit denen Wirklichkeit von handelnden Menschen erschaffen wird. In Form von Wissensordnungen ermöglicht Kultur somit Handeln, beschränkt dieses aber gleichzeitig auch.

Eben jene Beschränkung greift hier. Es sind die herrschenden „Normen der kompakten Majorität“, wie Rolf Schwendter sie nannte, an denen sich eine Gesellschaft orientiert (Schwendter, Rolf: Tag für Tag: eine Kultur- und Sittengeschichte des Alltags. Hamburg 1996, S. 9). Und wer gegen diese Normen verstößt, hat mit Sanktionen zu rechnen, auch wenn sie nicht offiziell sind. Nirgends ist festgelegt, dass Frauen einen BH tragen müssen, und doch ist es Teil ihres Habitus. Sie haben verinnerlicht, dass es „sich so gehört“ – auch wenn es zwickt und drückt. Der Verzicht auf Unterwäsche entspricht einem Verstoß gegen Sitten und Konventionen und wird mit sozialer Missbilligung geahndet. Sie haben gelernt und verinnerlicht, dass sie negative Konsequenzen spüren müssen, sobald ihr nicht normkonformes Verhalten auffällt. Deshalb versuchen sie, negative Kommentare, hämische Sprüche oder Zurechtweisungen zu umgehen. Zugleich macht dieses Bewusstsein, etwas Anstößiges zu tun aber auch den Reiz an der Sache aus: es fühlt sich „angenehm“ an, sie sind plötzlich „ungezogener und freier“.

Kollektive Normen beeinflussen die Handlungen von Einzelpersonen. Sie entstehen, indem ein bestimmtes Verhalten permanent wiederholt wird – in diesem Fall, dass die überwältigende Mehrheit der Frauen in der Öffentlichkeit einen BH trägt. In diese Norm wachsen junge Mädchen im Laufe ihrer Jugend hinein, etwa indem sie sich an ihren Müttern oder älteren Schwestern orientieren. Nach und nach verinnerlichen sie dieses Handlungsmuster immer mehr. Gleichzeitig erzeugen sie damit aber auch ein bestimmtes soziales Verhalten. Andere, jüngere Mädchen nehmen nun nämlich sie selbst zum Vorbild und tragen folglich ebenfalls einen BH.

Ein Interessenskonflikt entsteht dann, wenn die vorgeschriebene Handlung nicht im Interesse des einzelnen Akteurs liegt oder wie in diesem Fall: wenn die Akteurin einen Verstoß gegen die Norm anstrebt. Aus unterschiedlichen Gründen verspüren die Frauen offensichtlich von Zeit zu Zeit den Drang, sich der Norm einen BH zu tragen zu widersetzen. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein. Doch welchen wirklichen Mehrwert sich die Frauen davon versprechen, haben sie in den Interviews nicht artikuliert. Immer haben sie ihr Verhalten von bestimmten Situationen und Umständen abhängig gemacht.

Durch ihre Versuche, das fehlende Kleidungsstück zu verdecken, wird deutlich, dass sie sich dem Normverstoß durchaus bewusst sind und Sanktionen umgehen wollen. Weil sie dieses Verhalten aber regelmäßig an den Tag legen, ist auch klar, dass ihre scheuen Provokationen einen gewissen Reiz birgt – Vielleicht ein Gefühl der Rebellion, der Abgrenzung oder des Protests?

Allerdings ist es für sie ebenso reizvoll, einen BH zu tragen, da sie sich so „weiblicher, hergerichteter und selbstsicherer“ fühlen. Der Verzicht auf Unterwäsche wird also vermutlich bleiben, was er ist: eine heimliche Provokation, ein kleiner Ausflug abseits der Wege der Konventionen.