Der Banner als Mittler zwischen Menschen und Gesellschaften

 

Das Aufhängen von bunten Textilstücken als Zeichen ist ein weltweites Phänomen menschlicher Kulturen, dessen Ursprünge historisch nicht genau bestimmt werden können. Flaggen, Fahnen, Banner und Wimpel zeigen die Zugehörigkeit ihrer Inhaber zu einer bestimmten Gruppierung. Die Verwendung dieser Zeichen steht aber auch für die Zusammengehörigkeit der Gruppenmitglieder. Die Flagge entwickelte sich im Laufe der Geschichte zu einem starken Identifikationsobjekt. Einst galt mit der Fahne in der Hand zu sterben als ein besonders ehrenvolles Martyrium[1]. Die Beflaggung dient als Hoheitszeichen substitutiv für die Gruppierung, deren Zeichen sie trägt.

„Ihr sehet diesen Hut, Männer von Uri! Aufrichten wird man ihn auf hoher Säule, Mitten in Altdorf, an dem höchsten Ort, Und dieses ist des Landvogts Will und Meinung: Dem Hut soll gleiche Ehre wie ihm selbst geschehn, Man soll ihn mit gebognem Knie und mit Entblösstem Haupt verehren – Daran will der König die Gehorsamen erkennen. Verfallen ist mit seinem Leib und Gut dem Könige, wer das Gebot verachtet.“[2]

In der Regel genügt ein Hut als Hoheitszeichen jedoch nicht. Eine Fahne muss auch praktischen Anforderungen genügen. Sie muss aus größeren Entfernungen erkannt und identifiziert werden können, die verwendeten Farben müssen großflächig und kontrastreich auf das Trägermaterial aufgebracht werden können. Die Teildisziplin der Heraldik, die Vexillologie, beschäftigt sich mit der Erforschung, Deutung, Erstellung und Legitimierung von Fahnen und vergleichbaren Zeichen. Die Aufteilung der jeweiligen Fahne in einzelne Felder, ihre Anordnung und Relationen unterliegen vexillologischen Regeln. Hierbei ist auch die Anordnung der Felder, vom Fahnenmast aus gesehen vertikal und horizontal, von Bedeutung. Die Fahnenkunde verfügt über einen Farbenkatalog, in dem den verwendeten Farben bestimmte Attribute zugeschrieben werden.[3]

Die einzelnen Farben, die beim Entwurf einer Fahne verwendet werden, haben eine ganze Reihe von ganz bestimmten symbolischen Bedeutungen. So steht beispielsweise die Farbe Rot für militärische Stärke und Großmut; Weiß oder Silber steht für Sauberkeit, Weisheit, Unschuld, Keuschheit, Freude, Frieden und Aufrichtigkeit; Grün wird mit Freiheit, Schönheit, Freude, Gesundheit und Hoffnung interpretiert. Es gibt in dieser Hinsicht Farben, die weniger und Farben die vieldeutiger sind. Rot und Grün gehören zu den eindeutigeren Farben der Vexillologie. Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten, eine Fahne den Anforderungen und den Regeln entsprechend zu gestalten, kommt es also auf die genaue Beachtung der Komposition von Farben und Formen einer Fahne an. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass viele europäische Länder, unter dem Eindruck der Französischen Revolution und den darauf folgenden Staatenbildungen, die französische Trikolore als Vorlage für ihre Nationalflaggen gewählt haben.[4] Aus den Hauptfarben (Gelb, Rot, Blau, Grün, Schwarz und Weiß) musste eine große Anzahl unterschiedlicher Trikolore konstruiert werden. Aus den sechs Farben und der Möglichkeit, die Reihenfolge der Farben vertikal oder horizontal anzuordnen, kommen – wenn man die Farben, die aufgrund ihrer Bedeutungen nicht kombiniert werden können, außer Acht lässt – eine beachtliche Anzahl an Variationen zustande.

Für ein farbiges Textilstück wird jedoch noch niemand das Knie beugen, den Hut ziehen, geschweige denn sterben wollen. Das Zeichen muss mit Sinn-, Wert- und Bedeutungszuschreibungen gefüllt werden. Es muss zum Zeichen der Integration und der Distinktion einer Gruppe gemacht werden. Die Farbkombination und am besten auch ihre Anordnung soll Emotionen, Kenntnisse und Handlungen hervorlocken, die nur diese Kombination und nur bei bestimmten Personen vermag.

Dieses Kunststück wird in Diskursen vollbracht. Während der Französischen Revolution wurde die Flagge einer bestimmten militärischen Einheit, die sich im Kampf besonders hervortat, zur Flagge der Revolution und schließlich der französischen Nation gekürt. Die französische Trikolore mit ihren Bedeutungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bildet eine hervorragende Grundlage, die, mit anderen Farben als Blau-Weiß-Rot aufgefüllt, auch für andere Nationen als Identifikationsobjekt dienen kann.[5] Die Farben, die die Erschaffer  einer Fahne auswählen, erklären sich aus Zuschreibungen, die als charakteristisch angesehen werden. Unter den Akteuren zur Erschaffung, Inauguration und permanenten Affirmation befinden sich in der Moderne Akademiker, Medienvertreter, Volksvertreter, Fahnenhersteller, Designer, PR-Berater, Juristen, Aktivisten, Fahnenkundler, Fahnenflüchtige, Kleriker, Militärs und viele andere.

In den Diskursen um eine Fahne zeigen sich Gruppierungen, die sich durch diese zu erkennen geben und sich distinguieren. Das Wissen, die Meinungen, die Emotionen und die Handlungspraktiken um ein Stück farbigem Textil berichten über die Kulturen derer, die mit ihr zu tun haben.


[1] Wulff, Aiko: „Mit dieser Fahne in der Hand“. Materielle Kultur und Heldenverehrung 1871-1945. In: Historical Social Research, Jhg. 34, Nr. 4, 2009, S. 343-355.

[2] Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. 1. Aufzg., 3. Szene.

[3] Filip, Václav Vok: Einführung in die Heraldik. 2. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart 2011.

[4] Visser, Derkwillem: Flaggen, Wappen, Hymnen. Bevölkerung, Religion, Geographie, Geschichte, Verwaltung, Währung. Augsburg 1994.

[5] Ders.