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I like to move it? Von Fitness-Apps und dem freiwilligen Zwang zur Bewegung

Fitness-App

Immer mit dabei – Die Fitness-App bekommt alles mit.

„PLANE ES. TU ES. ZEICHNE ALLES AUF. TEILE ES“[1], dazu fordert die Trainings-App miCoach des Sportartikelherstellers adidas auf. Die App dokumentiert zurückgelegte Distanzen in Kilometern und zählt verbrannte Kalorien über den Tag, misst die Herzfrequenz und ermittelt die Geschwindigkeit beim Joggen. Darüber hinaus stellt sie Trainingspläne bereit. Bei Bedarf vernetzt sie mit anderen sogenannten Self-Trackern.

„All moments“ sollen „fit moments“ werden, denn die App ist laut adidas-Werbevideo nicht nur ein Workout, sondern eine „All-Day-App“.[2] 100% geben, an seine Grenzen gehen, besser werden, nicht stehenbleiben – dies sind Leitgedanken im Sport. In den letzten zwanzig Jahren haben sich diese Prinzipien aber auch immer mehr auf andere Lebensbereiche übertragen, z.B. auf berufliche Anforderungsmodelle, Vorstellungen über gesunde Lebensweise oder Schönheitsideale. Begriffe wie „Bastelexistenz“[3] oder „unternehmerisches Selbst“[4] sind in dieser Zeit in den Gesellschaftswissenschaften aufgekommen. Sie drücken aus, dass es dabei keinen Endpunkt gibt – der Weg ist das Ziel. Was macht das aber mit den Menschen?

In der ARD-Reportage „Fast perfekt. Anke Engelke und die Selbstoptimierer“[5] startet die Moderatorin und Entertainerin einen Selbstversuch. Sie geht mit Self-Tracker Nana eine „Challenge“ ein. Gewonnen hat, wer in fünf Tagen mehr Schritte zurückgelegt hat. Dafür tragen beide ein Armband, das ihre Bewegungen verfolgt und aufzeichnet. „Ich wette, dass es dich motiviert, abends nochmal ein paar Schritte extra zu gehen“, meint Nana zu Beginn des Wettbewerbs. Und er soll Recht behalten.

Zwischen Selbstbestimmung und Selbstbeherrschung

Anke und Nana Training

Startschuss zum Self-Tracking: Anke Engelke bekommt das Fitness-Armband angelegt.

„Ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich die Schritte mache, weil ich es wirklich will oder weil ich weiß, dass es gemessen wird“, gibt Engelke zum Ende der Challenge preis – und drückt damit das Dilemma zwischen Selbstbestimmung und Selbstbeherrschung aus.

Die Soziologin Paula-Irene Villa spricht von „Selbstbeherrschung aus freien Stücken“, der Philosoph Michel Foucault von „Gouvernementalität“.[6] Gemeint ist in beiden Fällen, dass sich die Menschen ohne äußere Verbote oder Zwänge selbst nach gesellschaftlichen Normen richten, in diesem Fall dem Prinzip von Leistungssteigerung. Auf diese Art wird es unmöglich zu unterscheiden, was wir aus eigenem Willen tun und was wir tun, um anderen zu gefallen oder einem bestimmten Bild zu entsprechen.

Die Reflexivität der Moderne, zu fragen, wer man sei und was man wolle, deute – so Villa – zunächst auf eine große Freiheit hin. Sie sei aber gleichzeitig auch mit der Pflicht verbunden, diese Freiheit zu nutzen.[7] Dabei lassen wirkmächtige Diskurse manche Alternativen vernünftiger erscheinen als andere. Eine gesunde Lebensweise verlängert wahrscheinlich das Leben und ist daher erstrebenswert. Das leuchtet heutzutage aber nicht nur jedem ein sondern wird auch immer mehr als höchste Priorität verstanden, für die man auch unter Umständen den Spaß hintenanstellt.

Wohlbefinden ja, aber nicht ohne Quälerei, ohne sich selbst herauszufordern, nicht im Stillstand.

„Relaxen nach dem Lauf ist so 2015“, behauptet Nike. Sein ausgedachter Kunde legt auch im Alltag nur kurze Zwischenstopps ein bei seinen Besorgungen in der Bibliothek, bei der Post, dem Bäcker und den 20 anderen Stationen auf der To-Do-Liste.[8] Damit gibt Nike einen Lebenswandel vor, für den man fast übernatürliche Kräfte zu brauchen scheint.

Hin und weg von Fitness-Apps

Diese Rhetorik wird allerdings im Alltag durchaus unterschiedlich ausgelegt und umgesetzt. Dies zeigt sich zum Beispiel anhand des Gebrauchs und der Meinungen über die Fitness-Apps. In den Kommentaren zu einem Spiegel-Artikel über die zehn besten Fitness-Apps sehen mehrere Leute überhaupt nichts Kritisches in den Fitness-Apps, sondern vermissen lediglich ihre Lieblingsanwendung. Andere sind wie „passionsblume“ der Meinung: „Wer aus wirklicher Lust und eigener Motivation Sport betreibt, braucht so eine App nicht.“ Für „mathmag“ ist sie hingegen nicht mehr als ein Ersatz für ein Übungsbuch.[9]

Auch die Motivationen für die miCoach-App, die im Forum der adidas-Homepage mitgeteilt werden, sind unterschiedlich. Sie reichen von ein wenig Abnehmen, fitter werden und effektiv längere Distanzen bewältigen bis zu dem Wunsch nach professioneller Anleitung durch die Trainingspläne. Es gibt zwar die Kandidaten, die erzählen, durch miCoach einen kompletten Lebenswandel durchgemacht zu haben à la von der Couchpotato zum Marathonläufer. Ob dieser Lebenswandel ihnen gut tut oder ob er neben äußerlicher auch zu innerlicher Unruhe führt, kann von außen jedoch nicht bewertet werden. Manche Einträge sind auch schon über zwei Jahre alt und es fehlen neuere Erfolge, sodass man annehmen kann, dass diese Self-Tracker in der Zwischenzeit vom Laufpfad abgekommen sind.

Ob Fitness-Apps hilfreich sind die gesteckten Fitness- und Bewegungsziele zu erreichen oder zu einer Lebensweise führen, die jemanden ins „Selbstoptimierungshamsterrad“[10] setzen, ist nicht eindeutig zu sagen. Wohl aber spiegeln sie in ihrem Entwurf und ihrer Vermarktung aktuelle Prinzipien unserer Gesellschaft von Leistungssteigerung und Eigeninitiative wieder. Die eigenen Gewohnheiten und Techniken und ihre Wirkungen auf die eigene Person selbstkritisch und ehrlich zu hinterfragen ist deshalb wichtig. Dafür gibt es allerdings noch keine App. Höchstens eine Erinnerungsfunktion.

[1] Adidas miCoach: http://www.adidas.de/micoach Zugriff: 05.03.2016 18:11 Uhr.

[2] Ebd.

[3] Hitzler Ronald/Honer, Anne zit. in: Villa, Paula-Irene: Habe den Mut, Dich deines Körpers zu bedienen! Thesen zur Körperarbeit in der Gegenwart zwischen Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung. In: Dies. (Hg.): Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld 2008, S. 269.

[4] Vgl. Bröckling, Ulrich zit. in: Ebd., S.261 oder Miller, Peter/Rose, Nicolas: „Production, Identity, and Democracy“. In: Theory and Society 24 (1995), S. 427-467.

[5] Engelke, Anke: „Fast perfekt. Anke Engelke und die Selbstoptimierer.http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Fast-perfekt-Anke-Engelke-und-die-Selb/Das-Erste/Video?bcastId=799280&documentId=32705568 Zugriff: 05.03.2016 18:11 Uhr.

[6] Villa 2008, S. 255.

[7] Vgl. ebd., S. 266.

[8] Vgl. Nike Women Styleguide: http://www.nike.com/de/de_de/c/women/style-guide/always-in-motion Zugriff: 05.03.2016 17:44 Uhr.

[9] Vgl. Forum zu Artikel: Dubravko Dolic: „Workout mit dem Smartphone: Sechs Fitness-Apps im Test.“ Spiegel-Online 06.06.2015 08:32 Uhr. http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/sechs-fitness-apps-im-test-training-mit-dem-smartphone-a-1037094.html#js-article-comments-box-pager Zugriff: 05.03.2016 17:32 Uhr.

[10] Engelke 2016.

Zum Weiterlesen:

Simone Hett: „Joggen unter Aufsicht.“ Weser-Kurier 27.09.2015 http://www.weser-kurier.de/startseite_artikel,-Joggen-unter-Aufsicht-_arid,1217604.html Zugriff: 03.03.2016 23:21 Uhr.

Nina Degele/Gabriele Sobiech: ”Fit for life“? Soziale Positionierung durch sportive Praxen. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis: Arenen der Weiblichkeit. Frauen, Körper, Sport. 31. Jg. (2008), H.69, S.109-118.

Bilder: sreenshots der angegebenen Medien.

 

Die Qual der Zahl – Was Konfektionsmode mit sich bringt

Eigentlich soll sie das Kleiderkaufen erleichtern, die Konfektionsgröße. Gefällt mir ein Teil, muss ich nur noch meine Größe auswählen und das Ding wird passen. Soweit zur Theorie. In der Praxis sieht das anders aus: Eine Studie eines Online-Portals besagt, dass 93% der Frauen in Deutschland mehrere Größen im Schrank haben.[1] In die üblichen Bekleidungsgrößen von 36 bis 42 passen angeblich nur 21%.[2]

SuperSkinny

Ein Grund dafür: Die Textil-Hersteller in Europa können die Maße für eine Größe selbst definieren. Ergebnisse aus regelmäßig durchgeführten Reihenmessungen geben zwar Bereiche für z.B. Brust-, Taillen- und Hüftumfang vor. Dies sind aber keine verbindlichen Normen. So können die Kleider von Marke zu Marke sehr unterschiedlich ausfallen. Dazu kommt, dass dieses Größensystem international nicht einheitlich ist: In Italien ist eine deutsche 36 eine 40, in Frankreich eine 38.

Diese Erfahrung macht auch eine junge Frau in einem Magazin-Beitrag.[3] Bei dem vorgestellten Experiment probiert sie Oberteile und Hosen aus verschiedenen Geschäften an, jedes Mal in Größe 38. Die Mode-Expertin legt das Maßband an, um zu schauen, um welche Größe es sich laut Reihenmessung-Definition tatsächlich handelt. Das Resultat: Die Kleider sind in den meisten Fällen zu eng und entsprechen laut Zentimetermaßen nicht den Angaben einer Größe 38. Ärgerlich, wenn man sich darauf verlässt, aber im Grunde leicht lösbar, indem die junge Frau es in Zukunft tendenziell mit einer Größe größer probiert.

Ist doch nur eine Zahl! – oder?

Die Rhetorik des Magazin-Beitrags deutet etwas anderes an: „Jetzt kommt der Albtraum jeder Frau – die Hose geht gar nicht zu“ und „ausgerechnet eine Hose in Größe 42 passt Marie am besten“, ist aus dem Off zu hören. „Jetzt sei bitte nicht frustriert“, kommentiert das die Mode-Expertin.

Welche Größe passt? Und wie fühlt sich das an?

Nicht nur: „Welche Größe passt?“, sondern: „Wie fühle ich mich damit?“

Marie passt nicht in die Hose und ihr erster Gedanke ist: „Was stimmt nicht mit meinem Körper?“ Die Konfektionsgröße dient damit nicht nur der Orientierung im Laden, sondern ist ein Mittel zur Selbsteinschätzung und Selbstvergewisserung über Körperformen und -proportionen. Denn es wird von einem Standard ausgegangen. „Individualität und Unverwechselbarkeit der Körperformen werden als Abweichung und nicht als Bereicherung gesehen“, erklärt die Soziologin Waltraud Posch in ihrem Buch „Körper machen Leute. Der Kult um die Schönheit.“ [4] Woher kommt dieser Gedanke: Von einem bestimmten Schönheitsideal, von dem sich die Praxis des Einheitslooks abgeleitet hat? Oder hat sich das Ideal aus den Praxen entwickelt?

Einheitliche Konfektionsgrößen gibt es in Deutschland seit 1900, als von Einzelfertigung auf industrielle Produktion umgestellt wurde. Trotzdem fand ein Schneider damals Beschäftigung, denn Anpassungen galten als völlig normal. Seit 1957 werden in Deutschland regelmäßig Reihenmessungen von den Hohensteiner Instituten durchgeführt. Die Durchschnittswerte sollen Anhaltspunkte dafür geben, wie Kleidung für die Menschen in Deutschland geschnitten sein sollte, damit sie möglichst vielen passt. Genau das gleiche macht auch das Deutsche Institut für Normierung, um die Höhen von Türrahmen, Schreibtischen und Notfallschaltern für möglichst viele Menschen möglichst angenehm zu gestalten. Auch hier ist nicht garantiert, dass dies gelingt, schließlich handelt es sich nur um statistische Werte. Doch in diesen Fällen würde man seinen Körper bei Abweichungen viel weniger in Zweifel ziehen als bei der Kleidung. Das Einordnen in Konfektionsgrößen umfasst aber mehr als eine Zahl, speziell für Frauen. Kleinere Größen sind positiver konnotiert als große Größen. Eva Hillers, Dozentin für Textil- und Bekleidungstechnik an der Hochschule Niederrhein erklärt, dass viele Unternehmen ihre Ware grundsätzlich kleiner auszeichnen, damit der Käufer sich „besser fühle“, „weil da eine kleinere Größe draufsteht“.[5]

Schlanksein – sexy oder ungesund?

In diesen Praktiken verdeutlicht sich das Schlankheitsideal der heutigen Zeit. Dieses hat sich aber ebenfalls erst mit der vorletzten Jahrhundertwende ergeben. Davor galt deutliche Schlankheit als kränklich.[6] In den 1960er-Jahren wurde das Schlankheitsideal durch das Aufkommen von Diät-Industrie und Massenmedien forciert. Einen Höhepunkt fand das bis jetzt in den 2000ern mit dem Hollywood-Trend „Size Zero“ – eine Marke, die bald für sich selbst stand und nicht mehr hinterfragt wurde. Übersetzt ins Deutsche bedeutet sie Größe 32 – eine Größe, die normalerweise von etwa 12-jährigen Mädchen getragen wird, nicht aber von erwachsenen Frauen. Trotzdem war „Size Zero“ damals Ausdruck dafür, es zur perfekten Figur geschafft zu haben.

Dabei stand die Größe für sich selbst ohne Relationen, etwa, wie groß diejenige Person war oder wie alt. Denn der Körper verändert sich automatisch im Laufe eines Lebens, sodass Änderungen bei der Konfektionsgröße nicht nur wahrscheinlich, sondern auch gesund sind. Diese Dynamiken werden bei solchen „Zahlendebatten“ jedoch komplett ausgeblendet. Glück und Wohlbefinden werden von bestimmten Maßen abhängig gemacht. Doch dabei läuft man Gefahr, auf einen Etikettenschwindel hereinzufallen.

[1] Myriam Siegert: Der Frust mit der Klamotte. In: Abendzeitung München, 01.03.2013 15:49 Uhr. http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.konfektionsgroessen-der-frust-mit-der-klamotte.a9792bd1-7323-4c9c-b96c-1a93c11c1622.html Zugriff: 11.01.2016 10:28 Uhr.

[2] Quarks & Co: Mensch nach Maß? Von DIN-Normen und Körpergrößen, S.15. http://www.wdr.de/tv/applications/fernsehen/wissen/quarks/pdf/Q_DIN.pdf Zugriff: 29.02.2016 13:33 Uhr.

[3] http://web.de/magazine/geld-karriere/echte-kleidergroessen-30945640

[4] Waltraud Posch: Körper machen Leute. Der Kult um die Schönheit. Frankfurt a.M. 1999, S.74.

[5]Nicole Scherschun: Europa im Größenwahn.09.03.2009 http://www.dw.com/de/europa-im-gr%C3%B6%C3%9Fenwahn/a-4083395 Zugriff:11.01.2016 11:17 Uhr.

[6] Vgl. Posch 1999, S.138-144.